Einleitung I

Einleitung I

Einleitung

Unter dem altgriechischen Worte «Mythologie» begreifen wir die «Sagengeschichte» der Menschheit oder den Inhalt der geistigen Vorstellungen, welche in alten Zeiten die Völker des Erdbodens, ehe sie in die «Geschichte» eintraten, von ausser-gewöhnlichen Wesen hatten und fortpflanzten, die Vorstellungen von Göttern und Göttinnen, Halbgöttern und Halbgöttinnen, Helden und Heldinnen, Riesengeschlechtern und Wundern. Man erkannte in ihnen unsichtbare und sichtbare Gestalten oder Erscheinungen. An der Spitze stehen vorzugsweise die Gebilde der Götter und Göttinnen, welche von diesem oder jenem Volke verehrt wurden, zufolge der Annahme eines Vielgötterreiches, das meistentheils ein Oberhaupt hatte: so können wir denn die Mythologie im Allgemeinen als die «Götterlehre» der frühsten Menschengeschlechter bezeichnen: eine Lehre, welche die zum Theil noch geltenden Religionen der verschiedensten Völker an den verschiedensten Orten seit der Urzeit umfasst, ehe das Christenthum seinen neuen Himmel brachte. Zu diesem Vielgötterthum rechnet man ausserdem noch Alles, was man sonst, im Laufe der Zeiten, für etwas Heiliges und über das alltägliche Mass Erhabenes, für etwas 'Wunderbares und An-staunenswerthes erachtet, angebetet, gefeiert, gefürchtet hat, und was noch heutzutag bei manchen Völkern sein Ansehen fortbehauptet, bei wilden sowohl als solchen, die eine grössere oder geringere Civilisation aufzuweisen haben. Denn man war ehedem der Ueberzeugung, dass Alles, was durch offene oder geheimnissvolle Macht sich auszeichnete, mit Göttern und göttlichen Wesen in Verbindung stehen müsse.

Oberflächlich pflegt man aber zu sagen: das ist «Heidenthum», was die alten Völker sich vorstellten! So nämlich drückt man sich seit der Erscheinung des Christenthum aus und nennt die Summe dessen, was die nicht zum Christenthum bekehrten Menschen lehren, schlechthin und verächtlich eine «Irrlehre». Dabei vergisst man indessen, dass auch diese Völker, die Heiden, für ihre Anschauungen das bedeutungsvolle Gepräge einer Religion beanspruchen, die man zu achten hat, mag sie immerhin eine blosse Naturreligion zu heissen sein. Denn in der That, der Name Naturreligion ist ein sehr würdiger Name, zwar dem Namen der «geoffenbarten» Religion der Christen gegenübergestellt, aber durchaus nicht zur Schmähung oder Beschimpfung der ersteren. Die Natur und die Begriffe von der Natur, wie wir endlich eingesehen haben, stehen viel zu hoch, als dass Jemand berechtigt wäre, einer aus der. Quelle der Natur entsprossenen Vorstellung des Göttlichen übermüthige und achtungslose Blicke zuzuwerfen. Der Christ wäre sehr voreilig, das zu thun; im Gegentheil ist er verpflichtet, vor allen Dingen dasjenige, was andern Völkern wahrhaft ehrwürdig erschienen ist oder noch immer ehrwürdig erscheint, um seiner eigenen Religion willen mit keinen spöttischen Augen herabwürdigend zu betrachten. Aus dem Nachfolgenden wird diess für Jedermann deutlich erhellen.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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