Einleitung I: Alter der Mythologie

Einleitung

Einleitung I: Alter der Mythologie

Einleitung

Zunächst wenden wir uns zu der doppelten Frage: erstens, wie alt ist die Mythologie oder wann hat sie begonnen, und zweitens, wie ist sie entstanden? Denn mit ihrem Alter möchte wohl zugleich auch die Art und Weise ihrer Entstehung verknüpft sein. Die Antwort auf diese beiden Fragen ist schwierig, wie wir gleich sehen werden. Denn wir sind gezwungen, einen kleinen Versuch zu machen, in die fernsten, dunkelsten und unabsehbarsten Zeiträume zurückzuschauen und einzudringen.

Sagen wir kurz: das Alter der Mythologie zu bestimmen, würde einzig und allein dann möglich sein, wenn es uns gelingen sollte, die Frage über das Alter und den Ursprung des Menschengeschlechts selbst, wenigstens einigermassen zur Befriedigung unserer Wissbegierde, auf eine irgendwie wahrscheinliche Weise zu lösen. Freilich, die geringste Andeutung auf dem Gebiete der Menschenerschaffung setzt sich den mannigfaltigsten Zweifeln des Denkers aus, davon abgesehen, ob nicht vielleicht diese ganze Frage so beschaffen ist, dass sie in ein ewiges Räthsel für unser sterbliches Auge eingehüllt bleiben wird. Die heutigen Naturforscher nehmen allerdings die tiefsinnigsten und interessantesten Anläufe zur Ergründung des organischen Lebens auf diesem Erdball und zur Erklärung der Entstehung, Fortpflanzung und Umwandlung der Geschöpfe, in der Hoffnung, das allmälige Werden der Formen, Gattungen und Arten, die uns bis auf diesen Tag entgegentreten, schliesslich entziffern zu können. Allein trotz der Ausnützung aller seitheriger Erfahrungen, wie sie die Wissenschaft an die Hand giebt, sind sie in den wesentlichsten Punkten auf Vermuthungen (Hypothesen) angewiesen, und diese Vermuthungen begegnen immer und immer wieder vielfachen Einwendungen oder stossen auf unausfüllbare Lücken in dem Gewebe der kühnsten aller sterblichen Untersuchungen. Gelänge ihnen die erhabene Aufgabe, einen halbwegs sicheren Grund für ihre Annahmen zu entdecken, und den Schleier auch nur eines einzigen Punktes zu lüften, der von durchgreifender Wichtigkeit wäre, so würden wir uns auch in den Stand gesetzt sehen, die Anfänge dessen, was wir oben als den Inhalt der Mythologie zusammen-gefasst haben, mit grösserer Sicherheit zu beleuchten und besser als seither den Gang der frühsten geistigen Entwicklung der Menschen zu verfolgen, zu errathen und festzustellen. So lange aber die Schritte der Naturforschung nicht weiter vorgerückt sind, wird uns nichts übrig bleiben, als auf dem Gebiete der Mythologie gleichfalls vermuthungsweise zu verfahren, das Glaubliche mit leichten Strichen zu zeichnen, und zur Stütze die mündliche und schriftliche Ueberlieferuug der Zeiten zu nehmen, im Uebrigen aber den Flug der Phantasie einzuschränken, selbst wenn sie von den Schwingen der Philosophie getragen würde.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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