Einleitung I: Darwin und Häckel

Einleitung

Einleitung I: Darwin und Häckel

Einleitung

Wir knüpfen an das neue System an, dessen Urheber der Engländer Darwin und dessen vornehmster Vertreter unser Landsmann Häckel ist. Die beiden ausgezeichneten Forscher haben, um kurz zu reden, eine wissenschaftliche Grundlage geschaffen, welche über die Entstehung und Entwicklung der thierischen Organismen, also auch des Menschengeschlechts, den entscheidendsten und durchgreifendsten Auf-schluss darbietet. Aus ihren Nachweisungen, die alle Gründe der Thatsachen und des Scharfsinns benützen, erhalten wir die sicherste Ueberzeugung, dass erstens die gesammten lebenden Geschöpfe, die Menschen nicht ausgeschlossen, in eine unendlich ferne Zeit zurückreichen, in jene frühe Epoche der Erde, wo die ersten Keime des Lebens aufgehen konnten. Zweitens erfahren wir, dass die Geschöpfe der Erde eine lange Reihe von Perioden, in welchen sie sich allmälig entwickelt haben, stufenweise durchlaufen sind. Drittens, dass die Geschöpfe im Allgemeinen körperliche sowohl als geistige Fortschritte machten und sich vollkommener ausbildeten, während sie theilweise «im Kampfe um das Dasein» untergingen oder auch von der früheren Ausstattung abfallend und zurückgerathen verkümmerten. Unter diesem Kampfe um das Dasein versteht man das Ringen der lebendig freien Organismen untereinander, entweder um sich gegen die durch Widersacher ihnen drohenden Angriffe zu wehren, oder Nahrung zu ihrer Erhaltung zu gewinnen. Die am vortheilhaftesten ausgebildeten Individuen siegten in diesem Streite über die geringeren, sei's mittelst ihrer Leibesstärke, oder ihrer vorzüglicheren Organe, oder weil sie überhaupt begabter waren. Die besten Arten, Geschlechter und Gattungen blieben übrig, erhielten sich unversehrt und setzten, unter Bewältigung der ihnen entgegentretenden Hindernisse, ihre Nachkommenschaft, ihre weitere Bildung und Veredlung glücklich fort, von Epoche zu Epoche ihre Eigenthümlichkeiten entwickelnd, abwandelnd und ihre Formen umgestaltend. Die Wahl ihrer Geselligkeit führte diese und jene Geschöpfe zur Züchtung, nämlich zu einer vortheilhafteren Fortpflanzung, wodurch sie unter ihres Gleichen eines höheren Ranges theilhaftig wurden, einerseits eine grössere Sicherheit für ihr Fortbestehen, andererseits die Möglichkeit zu einer immer schöneren Entfaltung ihrer Anlagen empfingen. Daraus entsprangen auch mannigfaltige Unterschiede unter solchen Arten, die eigentlich nicht verschieden waren.

Der Laie hat keine Veranlassung, das Darwinsche System an diesem Orte sorgfältiger zu schildern und näher zu beleuchten. Es kommt für ihn ebenso wenig darauf an, das Ganze wie die Einzelnheiten schon als sicher und erwiesen hinzunehmen. Aber es kann dem vorsichtigen Urtheiler keineswegs entgehen, dass die Riesenaufgabe nicht erschöpft ist, sondern dass mancherlei Lücken in jener ebenso sinnreichen als verwickelten Darstellung dieses Naturgebietes sich herausstellen, und dass nach mehrfacher Seite hin allerlei Bedenken erwachen, die selbst diesem und jenem erprobten Fachkenner und Mitforscher ein schwerer Stein des Anstosses sind. So hat denn schon Agassiz die Möglichkeit zurückgewiesen, dass eine Eigenart aus einer andern Eigenart entstehen könne: er hat die ganze Untersuchung Darwins und seiner Mitstreiter einen wissenschaftlichen Missgriff gescholten, der sehr nachtheilig wirken müsse. Der letztere Vorwurf dürfte sich jedoch als ein unverdienter ausweisen. Denn es ist leicht möglich, dass die Mängel der Darwinschen Lehre sich durch spätere Berichtigungen ausgleichen lassen, und dass man den Fingerzeig findet, der schliesslich auf den rechten Weg hingeleitet.

Was uns an dem neuen System auffällt, ist Folgendes. Darwin nat angenommen, dass die ursprüngliche Erzeugung der freien Organismen (wenn wir so sagen dürfen), die erste Erzeugung derselben, aus etlichen wenigen Zellen vor sich gegangen sei; fabelte man doch früher sogar blos von einer einzigen Zelle! Beweisen lässt sich die Sache nicht, der grosse Gelehrte stellt eine wohlbedachte Hypothese auf. Wenn es indessen für die Richtigkeit einer Hypothese spricht, dass ihre Grundlage durchweg eine nothwendige sei, eine solche, die es gestattet, eine Menge weiterer Folgerungen mit Recht an sie anzuknüpfen und dieselben ebenso sicher festzustellen, so scheint es im vorliegenden Falle hier und da etwas misslich auszusehen. Vor Allem fühlt man sich versucht, die Voraussetzung, dass äusserst wenige ursprüngliche Zellen genügten, für eine willkürliche und an sich unwahrscheinliche Annahme zu halten. Warum sollen denn nicht mehr als etwa ein Halbdutzend Zellen das erstaunliche und unermessliche Werk begonnen haben? Warum nicht eine weit grössere Menge derselben? Der Erdkörper mit der Mutter Sonne fing seine erste natürliche Fruchtbarkeit schwerlich mit etlichen zerstreuten Urzellen an; eine solche Beschränkung der Macht darf man, weil es nicht den geringsten Grund dafür giebt, der Natur nicht zumuthen und aufbürden; denn das hiesse nichts anderes, als einen winzigen und blos menschlichen Massstab an das Unendliche anlegen. Wahrscheinlicher ist es bei den allmächtigen Kräften, die wir der Natur zutrauen müssen, weil sie unerschöpflich und unberechenbar wirkt, dass auf allen Punkten der Erdenmaterie, im Bereich des Festlandes wie im Wasser, unter mehr oder weniger günstigen Verhältnissen, eine Unzahl von Zellen nebeneinander und ziemlich zu gleicher Zeit sich gebildet und entwickelt habe. Wäre es wenigstens nicht einigermassen geboten, für die entschiedenen Eigenarten der Organismen, so weit sie uns als solche bekannt geworden sind, auch ebenso viele verschiedene Urzellen anzunehmen, die zwar ähnlich, aber doch vielfach anders ausgestattet oder befruchtet waren? Und sollte aus dieser Verschiedenheit der letztern nicht der Stammbaum der werdenden und gewordenen Formen sich weit leichter, einfacher nnd zuverlässiger herleiten lassen, als wenn wir die unsäglichen Abweichungen zahlloser Organismen, mögen sie sonst noch so viele gemeinsame Zeichen ihres Erdenursprungs aufweisen, aus einer nahezu einheitlichen Quelle nicht ohne äussersten Zwang erklären wollen? Sträubt, sich die Wissenschaft gegen diesen Vorschlag mit Recht? Auf gute Gründe mag sich wohl die Hypothese Darwins berufen; aber auf ausreichende und vollgültige Gründe, möchte sich doch bestreiten lassen. Der Satz, man müsse stets auf die möglichste Einfachheit zurückgehen, ist richtig und nicht genug zu schätzen; nur möchte es bisweilen gefährlich sein, dieses Prinzip zu übertreiben und auf den Kopf zu stellen. In besagter Untersuchung möchten wir denn rathen, den Horizont für den Ausblick nicht allzueng zu setzen; wir meinen, man solle sich hüten, diese oder jene Momente gering zu schätzen, damit man nicht gezwungen werde, das Ungleichartige ohne Noth für gleichartig aufzuführen. Auch die Erde macht auf uns Menschen häufig den Eindruck von etwas Unendlichem. In ihrem Körper liegt die Allmacht der Zeugung noch heutzutag. Gediegene Forscher behaupten sogar, einst sei diese Kraft der Erde noch ungleich frischer, jugendlicher, schneller und reicher aufgetreten; sie habe sich im Laufe der Jahrtausende aus mancherlei Ursachen abgeschwächt. Wenn sie Recht haben sollten, was nicht unwahrscheinlich ist, um so weniger hätten wir es dann nöthig, die Geburtsstätten für die Organismen auf eine so unerhört geringe Zahl von Zellen zu beschränken. Die Fläche der Erde, unterstützt von Sonne und Mond, grünte und blühte, lebte und webte in jener ersten Epoche, wo sie zeugungsfähig geworden war, vermuthlich allerwärts auf Höhen und in Tiefen über und über: hier traten diese Kräfte, dort jene hervor, mannigfaltig im weitesten Sinne, bald das Uebergewicht erringend, bald minder begünstigt und unterdrückt. Man braucht nicht allzukünstlich und allzuängstlich auszuholen, um den merkwürdigen Vorgang der ersten Zeugung begreiflich zu machen. Dieser Vorgang muss ein so gewaltiger und weitausgedehnter gewesen sein, dass es eine Spitzfindigkeit wäre, ihn so überaus winzig oder dürftig zu machen, damit man ihn ja sich als einen recht natürlichen vorstellen könne. Setzen wir daher eine unbeschränkte Zahl von dergleichen Lebenskeimen voraus, zumal da wir ungemein viele Geschöpfe noch nicht kennen, so verflachen wir einerseits die hohe Aufgabe keineswegs, deren man sich unterzieht zur Erklärung der Art und Weise, wie die thierischen Organismen aus dem Schoosse der Erde geboren worden sind; es bleibt noch genug der Mühe übrig, um die be-stiindige Entwicklung der Arten im Kampf um das Dasein und die Ursachen ihres Untergangs bei schlechten und ihrer Fortpflanzung bei günstigen Verhältnissen so einleuchtend als möglich vorzuführen. Zweitens haben wir dann einen besseren Grund und Boden, um dem Charakter der Eigenarten nachzuspüren und den Wahn zu entfernen, dass es keine Eigenarten gebe, sondern nur Arten, die durch irgend eine unter ihnen stattgefundene Vermischung und Fortbildung eine neue, besondere, einigermassen verschiedene Art hervorgebracht hätten. Bei welcher letztern Ansicht man auf den allgemein angenommenen Satz sich beruft, dass in der Natur keine Sprünge vorkommen.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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