Einleitung I: Das Gewissen

Einleitung

Einleitung I: Das Gewissen

Einleitung

Um auf das Gewissen zurückzukommen, erachten wir die Gabe desselben, das Vermögen, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ebenfalls für eine Mitgabe des Menschen, so hoch wie alle andern Mitgaben und selbst der angeborenen Fähigkeit gleich, einen Gottesbegriff zu erfassen. Es würde ebenso vergebens sein, das Gewissen durch eine Art von gesellschaftlichem Uebereinkommen in der Brust eines Menschen erzeugen und anfachen zu wollen, als es unmöglich sein würde, dem Thiere ein solches beizubringen. Alle Menschen, die Urahnen wie die heutigen Nachkömmlinge, besassen und besitzen die Anlage zu einem Gewissen; selbst der wildeste Indianische Häuptling, wie uns berichtet wird, trägt dieses geheimnissvolle Etwas mit sich, um zu fühlen und zu erkennen, dass er unrecht handelt, wenn er im Rausche blinder Leidenschaft eine schlechte Handlung begeht. Freilich, abschrecken lässt sich der Indianer nicht immer durch die Stimme der Mahnung in seinem Innern. Penn es kommt lediglich auf die grössere oder geringere Ausbildung des Gewissens an, ob letzteres sich geltend macht oder nicht: kurz, als der Mensch geistig erwachte, so ward auch das Gewissen in ihm rege und verstärkte sich bei wachsendem Verstande und zunehmender Erfahrung. Nur die Rohheit unterdrückt es mit solchem Erfolg, dass der Rohe kein Gewissen zu haben scheint. Die Behauptung Virchows also läuft auf einen Scherz hinaus ; er wollte offenbar die moderne Barbarei, welche dem Gewissen trotzt, und die Bosheit so vieler Individuen ironisch zeichnen.

Auf die Regung des Gewissens geht vielleicht die Annahme eines guten und bösen Princips in der Mythologie zurück. Die Weisen der verschiedensten Generationen haben ein solches Doppelwesen der Natur statuirt, welches bei den meisten Völkern eine Hauptrolle spielt. Die Aegypter, die Perser, die Germanen, auch die Inder entwickeln eine derartige Zweitheilung der Weltherrschaft. Bei den Griechen sind wenigstens die bestimmtesten Vorstellungen von den Folgen des Rechts und Unrechts, von Lohn und Strafe, von Glückseligkeit und Verdammniss, mit den hellsten Farben ausgemalt worden. Eine Reihe unkultivirter Völkerschaften sehen wir noch heutigen Tags an dem Glauben hangen, dass ein gütiger Geist über den Menschen schwebe und ein finsteres Wesen sie verfolge, dessen Macht ihnen Unheil bereite auf Schritt und Tritt.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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