Einleitung I: Die geistige Anlage der Menschen und Ihre Entwicklung

Einleitung

Einleitung I: Die geistige Anlage der Menschen und Ihre Entwicklung

Einleitung

Wenn die Menschen, wie wir gesagt haben, so alt wie die Welt sind, dann wagen wir nichts, wenn wir die Behauptung aussprechen, dass die Mythologie ebenso alt ist. Denn die Reihen von Vorstellungen, welche den Inbegriff der Mythologie ausmachen, hängen unmittelbar mit dem geistigen Erwachen des Menschengeschlechts zusammen und gehen Hand in Hand mit diesem Erwachen, in der Seele sich einfindend und wachsend, sich vermannigfaltigend und vertiefend. Wie mag das zugegangen sein? Ein langer Prozess war es jedenfalls, indem das Erwachen des Geistes kein plötzliches sein konnte, sondern den Naturgesetzen, wie Alles, unterworfen war. Wie viele Jahrtausende mögen verlaufen sein, ehe sich der Anfang einer solchen innerlichen Bewegung zu bilden vermochte! welcher unübersehbare Zeitraum mag dazu gehört haben, einige wenige Einzelnheiten des Gedachten und Erkannten in halbwegs feste Umrisse zu bringen! Denn mächtige Hindernisse thürmten sich, wie der körperlichen, so auch der geistigen Entwicklung jenes Geschöpfes, welches zum obersten Range berufen war, Schritt vor Schritt entgegen! Geboren in gleicher Lage wie die Thiere, mussten die Menschen sich aus dem dunkeln Schlamme ihres Geburtsbettes, wenn ich mich so ausdrücken darf, zunächst herausarbeiten und einigermassen die Kräfte sammeln, welche die Natur in sie gelegt hatte. Alsdann harrte ihrer der schreckliche «Kampf um das Dasein,» worin sie den grausamsten Gewalten sich gegenüber befanden, dem anscheinend gesetzlosen Gebahren der unorganischen Natur und dem rohen Andrängen der mitge-bornen thierischen Organismen, einem überaus bunten, unzähligen Heergetümmel; wir dürfen mit Sicherheit hinzufügen, auch die Menschen unter einander haderten und fochten, Art mit Art, Stamm mit Stamm. Das unbeschreibliche Wirrsal, wer möchte sagen, wie viele Zeitalter hindurch es angedauert hat, das blinde Rasen eines unaufhörlichen Krieges? Indessen hatte dieses entsetzliche Ringen für die menschlichen Streiter die glückliche Folge, dass sie von den Gaben, die ihnen angeboren waren, Gebrauch machen lernten und ihre Umsicht schärften; sie mussten es, um Sieger zu bleiben. Mit ihren Leibeskräften einzig und allein durften sie nicht hoffen, die Arten jener wilden thierischen Kolosse, die in der Urzeit neben ihnen lebten, in Schranken zu halten und niederzuschlagen; auch wenn wir voraussetzen, dass sie selbst einen gegen die heutigen Gestalten verhältnissmässig gigantischen Körperbau hatten, schwächer waren sie von Leibe jedenfalls, um den stärkeren Ungeheuern mit blosser physischer Gliederkraft auf die Dauer widerstehen zu können. Daher waren sie bald genöthigt, zu allen Waffen zu greifen, die ihnen der Verstand darreichte, die überlegene Mitgift ihrer Geburt, die Klugheit, die List. Sie dachten nach, wie; sie ihrer sonst übermächtigen Gegner sich am besten entledigten, sie merkten sorgfältiger auf die verderblichen Ausbrüche der Elemente, und wie sie jene zu schlagen sich bemühten, so wichen sie diesen aus, nach Massgabe ihrer Berechnung. So suchten sie wohl auch Verstecke auf oder wählten Wohnplätze von grösserer Sicherheit. Der gefährlichste Widersacher des Menschen mochte freilich der Mensch sein, weil im ausgebrochenen Hader und im Sturme wilder Begierden Ebenbürtigkeit gegen Ebenbürtigkeit stritt; doch ist es selbst in diesen Wuthschlachten wahrscheinlich, dass die edleren Arten seines Geschlechts sich durchschlugen, die schlechteren untergingen, zur Seite wichen und ihre Macht verloren. Jene Arten wuchsen, die letztern blieben verkümmert.

Die Nöthen des Daseins also waren die harte Schule der Menschen, die wesentlich dazu beitrug, dass sie geistig erwachten und die Fähigkeiten der Seele übten, erst zum äusseren Widerstand aufgerafft, dann zur ernstlichen Betrachtung angefeuert, endlich durch das Vergnügen geleitet, das sie im Nachsinnen fanden. Langsam ging denn anfänglich ihr Denken von Statten, auf den kleinen Kreis weniger Bedürfnisse gerichtet; überschauten sie * doch in den ersten Zeiten gewiss nur ein winziges Stück unserer Erde, die für sie die Bedeutung einer unendlichen Erscheinung haben musste, da sie ihnen grösser sich darstellte, als der darüber gelagerte Himmel selbst. Allmälig aber vermehrten sich die Eindrücke, die sie von aussen schöpfend in die Seele aufnahmen und nach aussen zurückgaben. Gleichwie zuerst am frühen Osthimmel, wann die Sonne sich nähert, wenige vereinzelte helle Strahlen heraufschiessen, dann aber die Lichtstreifen dichter und weiter sich ausspannen, bis der ganze Morgenäther glänzt und zu lodern scheint, so tauchten auch, im Laufe von Myriaden Jahren, mühsam die ersten leuchtenden Funken im Innern der Menschen auf, Begriffe weckend, Betrachtungen und Gefühle anregend, worauf neue Gedanken folgten und zu einem immer helleren Lichtkreise sich ansammelten, je weiter die Linie des Horizonts vor den spähenden Augen gleichsam fliehend zurückwich. Die Bilder des Erdenbereiches, freundliche und unfreundliche, freudvolle und schreckliche, nahmen die gesteigerte Aufmerksamkeit nicht einzig und allein in Anspruch. Ausgezeichnet durch den aufrechten Gang, zu welchem ihr Körper vorzugsweise geschickt war, wandten die Menschen gleichzeitig ihr Antlitz aufwärts und prüften den Luftraum, seine Wetter und Phänomene, und darüber das Himmelsgewölbe und seine wundersamen Sterne. Sie suchten ein hohes, unbekanntes Etwas, das ihnen vorschwebte, als ob sie es hinter Bergen und Thälern oder im fernen All endlich anzutreffen hoffen dürften. Es war die geistige Sonne, nach der sie forschten, aber diese entschleierte sich vor ihnen so wenig, als wir Sterblichen wohl jemals auf Erden einen vollen Lichtstrahl derselben für uns zu erwarten haben.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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