Einleitung I: Die Materialisten

Einleitung

Einleitung I: Die Materialisten

Einleitung

Erschreckliche Gedanken, müssen wir zugestehen; Gedanken, die uns bange machen würden, wenn sie neu wären und von gründlicher Seite ausgingen. Das ist aber nicht der Fall; denn diese Geistesrichtung ist alt und die modernen Anhänger derselben sind entweder leichte Vogelsteller oder einseitige Schatzgräber. Unter die tüchtigen und vollgültigen Naturforscher zählt keiner von ihnen. Wir haben uns also vor ihren Weisheitslehren nicht zu fürchten. Was sie vorbringen, ist das schwache Resultat ihrer unbeholfenen Folgerungen, und sie erfreuen sich an der Seifenblase ihrer Behauptungen wie spielende Kinder, während sie selbst in dem Wahne stecken, dass sie mannhaft mit Kanonen schiessen. Wenn man sich dabei über etwas wundern könnte, so wäre es die nicht alltägliche Anmassung, die diese Flunkerer, ohne zu merken, dass sie flunkern, zur Schau tragen. Sie glauben die Wahrheit ihrer Aussprüche zu beweisen, wenn sie sich an gewisse Einzelnheiten anklammern, die theils unbedeutend sind, theils, wenn sie eine Wichtigkeit haben, in ihren Augen für vollständig erforscht gelten, obgleich sie der Forschung noch unterliegen. Dergleichen Einzelnheiten, aus ihrem Zusammenhange herausgegriffen, nehmen sie für das Ganze, um das Ganze über das Knie zu brechen and zu sagen, dass die Sache entschieden sei. Nach ihrer Meinung sind sie weiser als alle Vormenschen und pochen darauf, dass sie tausendjährige Irrthümer zerstören; die früheren Denker hätten nichts von der Natur gewusst, sondern wären im Ungewissen herumtappende Phantasten gewesen. Wir müssen daraus schliessen, dass sie ihr eigenes, modernes Gehirn für ein weit vollkommener organisirtes ausgeben, als dasjenige, welches in den Schädeln so vieler ausgezeichneter Personen, die man seit dem Anfange der Weltgeschichte kennt, gewohnt und gearbeitet hat. Denn um das Gehirn dreht sich, nach ihrer Entdeckung, die Hauptfrage. Ein Geist des Individuums, wie oben gesagt, existirt nicht, sondern jene millionenfachen Aeusserungen, worin wir einen ununterbrochen im Körper wirksamen und thätigen Geist erblicken, sollen die glücklichen oder unglücklichen Erzeugnisse der feingestalteten und vielverflochtenen Masse sein, die im Schädel eingeschlossen ist, des Gehirnes. Man sollte freilich meinen, dass diese kostbare Masse einen Urheber haben müsse. Aber von einem Schöpfer des genannten Organs ist bei den Materialisten keine Rede; ebenso wenig von einem Geiste, der hinter dem Gehirn stecke, ebenso wenig von einem selbsteigenen Leben innerhalb des gesammten Organismus, ebenso wenig von einem Fortbestand der Lebenserscheinung, nachdem der Organismus wieder zerbrochen ist, ebenso wenig von einer unsichtbaren Seele überhaupt. Man begreift dabei nicht recht, woher das spätere weise Gehirn seine Kräfte hergenommen haben soll, das frühere dumme Gehirn zu widerlegen. Wir wollen verschweigen, was man ausserdem aus diesen unsinnigen Anschauungen flacher Köpfe geschlossen hat. Ihnen zufolge giebt es keinen Gott, kein höchstes Wesen, keinen Geist ohne Körper; der Mensch selbst ist ein zufälliges Geschöpf ohne Zweck und Ziel, ein vorübergehendes Traumbild.

Leichtfasslich steht diese Hirngeburt der Materialisten da. Sie macht demjenigen, der sich mit ihr beschäftigt, kein Kopfzerbrechen. Heutzutag glauben an dergleichen Scheinentdeckungen, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Zeitlang Modegeltung erlangten, nur noch wenige Menschen von gleicher Oberflächlichkeit wie diejenigen, welche den ganzen Schwindel in Bewegung gesetzt haben. Einem jeden einfachen Urtheiler drängt sich die Frage auf, wie es komme, dass alle anders denkenden Sterblichen von Narrheiten besessen sein sollen, nur diese Materialisten selbst nicht, die doch auch ihrerseits nichts Besseres als das Instrument des Gehirnes haben, also gleichfalls der Spielball ihres Gehirnes sein müssen. Freilich, es bleibt ihnen eine sehr bescheidene Ausrede. Sie dürfen sich nur rühmen, dass gerade sie von der Natur mit dem feinsten Gehirn ausgestattet worden sind, mit einem Gehirn, welches dazu auserlesen war, die Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden! Sagen wir, das Vorhandensein alles Göttlichen zu verneinen.

Die Materialisten selbst haben nichts entdeckt, was von irgend einer Wichtigkeit wäre. Sie beschränkten sich darauf, die Gärten der Philosophie, Erdkunde, Physiologie und Chemie zu plündern, um so viele Zweifel als möglich aufzusammeln, die sie für ihre Meinung brauchen konnten. Unbekümmert um dieses Treiben, hat die auf wissenschaftliche Grundlage gestützte ächte Naturforschung ihre erhabenen Bestrebungen glücklich fortgesetzt. Eingestehen müssen wir freilich wiederholt, dass es den Meistern dieses weltumfassenden Faches auch bis heute noch nicht gelungen ist, jene allgemeinen und tiefen Fragen, die von jeher dem nachdenkenden Menschen-geschlechte als Räthsel entgegengetreten sind, zu irgend einer Entscheidung zu bringen, wenn es auch nur eine vorläufige wäre. Ja, gerade diejenigen Fragen, welche dem Menschen allezeit mehr als andere Dinge am Herzen gelegen haben, sind absichtlich und mit weisem Vorbedacht von Seiten der besten Forscher Übergängen worden, sei es, weil sie ihre Beantwortung für verfrüht ansahen, oder weil sie glaubten, dass der Sterbliche immerdar auf die Erhellung gewisser unbegreiflich erscheinender Dinge verzichten müsse. Diese Zurückhaltung gereicht ihnen nicht zum Vorwurfe, sondern zum Lobe. Denn sie weisen auf die Schranken hin, welche dem hochfliegenden Menschengeiste, was man ihm auch zutrauen möge, gesteckt scheinen: Schranken des Irdischen, deren Durchbrechung selbst im blossen Versuche sich strafen würde, sobald der Versuchende, seine Kraft überschätzend, zu weit ginge. Zerrüttung der Seelenkräfte würde wohl die Strafe allzuverwegenen Unterfangens unausbleiblich sein. Doch mögen wir diese Sachlage beklagen oder nicht beklagen, die einsichtsvollsten Naturgelehrten schweigen, wenn wir sie angehen mit den Fragen: woher oder woraus das Leben stamme, wann und auf welche Weise das Leben auf der Erde enstanden sei, und durch welche Kräfte es habe entstehen und in den Organismen auftreten können. Ferner verhalten sie sich stumm gegenüber den Fragen: «giebt es eine Fortdauer des in den Organismen vorhandenen und thätig gewesenen Lebens, eine Unsterblichkeit, eine Ewigkeit? Ist Alles ein kurzes Spiel? Ein flüchtiger Scherz? Besteht ein Wesen, das wir Gott nennen, ein Welt-regierer, nach dessen Gesetzen das Grösste wie das Kleinste geht, ein allmächtiger Herrscher, wie er auch beschaffen sein möge, ein Richteramt desselben? Giebt es Belohnungen und Strafen in einem Jenseits, wo wir fortleben? Oder ist es mit dem geborenen und gestorbenen Menschen nach dem Tode aus?» Die bedächtigen Forscher kümmern sich neuerdings mit nichten um die sofortige Erklärung solcher Punkte, sondern fahren einfach in ihren auf Materie und Lebensentwicklung gerichteten Untersuchungen fort, soweit sie glauben vorrücken zu können. Ob in das jetzt Unergründliche jemals ein sterblicher Lichtstrahl hineinfallen wird oder nicht, lassen sie dabei ruhig dahingestellt sein.

Auch für uns wäre es zu weitläuftig, auf das Ebenerwähnte an diesem Orte näher einzugehen, zumal unser Zweck es nicht dringend erfordert. Nur eine einzige Laienbemerkung sei uns gestattet, um den Zweiflern an einem Fortleben zu antworten. Sicher und gewiss ist es freilich, dass auf dieser Erde der Geist ohne eine Körperhülle kein Dasein hat, nicht bestehen, nicht sich offenbaren kann. Aber wie nicht das kleinste Atom der Materie je vergeht, nämlich nie und unter keinem Machtdruck vollständig vertilgbar ist, so dass es nicht mehr bestände: so ist offenbar auch der geistige Theil, der in dem Organismus sich entfaltet, zum allermin-desten ebenso stark an Urkraft, wie der materielle Theil, welcher ihn aufgenommen hat: also gleichunvertilgbar, wie dieser letzter. Eine Folgerung, sollte ich meinen, die obenhin zu missachten Willkür oder Leichtfertigkeit wäre. Denn die Annahme einer solchen Gleichstellung zwingt uns der gesunde Menschenverstand auf, der uns keineswegs lehrt,' dass der Geist oder die den Körper belebende Seele ein blosses Nichts sei, die Materie dagegen Alles. Wer in aller Welt gäbe uns denn das Recht, den blossen Stoff so hoch zu stellen, oder vielmehr höher? Wenn der Leib zerfallen ist, so nimmt der darin wohnende Geist eine andere Hülle an. Eine neue Hülle, welcher Art sie immer sein möge! Was aus dem aufgelösten, getrennten, zerstobnen Organismus wird, kann uns bei dieser Frage ganz gleichgültig sein.

Vernichtbar in dem Grade, dass er nicht mehr vorhanden wäre, ist der Stoff nimmermehr. Keine Kraft des Menschen (sicherlich auch keine Kraft der Natur) reicht hin, ein Sandkorn oder ein Baumblatt so zu vernichten, dass nichts übrig bliebe; ein Rest muss schlechterdings greifbar, fühlbar, sehbar, wenigstens als ein Stäubchen oder als ein Hauch seiner Wesenheit, jeglichem Angriffe trotzen und seine Fortdauer auf irgend eine Weise behaupten. Wesshalb aber sollte es um den geistigen Inhalt des Organismus anders stehen? Auch er kann unmöglich einer vollständigen Vernichtung unterliegen!

Denn sobald die Meinung wahr wäre, dass es kein fortdauerndes Leben gäbe, gondern nur ein vernichtbares und bis auf den leisesten Hauch wieder verschwindendes, so würde alles und jedes Leben, das wir in den Organismen gewahren, eigentlich nichts anderes als eine oberflächliche und zeitweilige Gaukelei vorstellen, einen blossen Schein; in der Wirklichkeit gäbe es kein Leben, das diesen Namen verdiente. Daraus würde dann folgen, die Natur (die Schöpfung, wie sie gewöhnlich genannt wird) sei todt. Was aber wäre eine todte Natur? Eine bunte Masse von Stoffen, ohne allen Halt und Anhalt, ohne Gesetz und Ordnung, Aber wir sehen ja das Gegentheil vor sichtlichen Augen, so dass' wir die Wirklichkeit greifen können! Alles in der Natur zeigt die wunderbarste und für unsere menschlichen Begriffe vollkommenste Gesetzlichkeit bis in das Geringste auf, so weit es uns sichtbar wird, eine stete, feste, unwandelbare Gesetzlichkeit überall und ohne Ausnahme. Wohin wir schauen, augenblicklich tritt uns die Wirksamkeit einer sich unabänderlich vollziehenden und stets gleichen Vorschrift wie von selbst entgegen, im Licht und Schatten, im Steigen und Versinken, in jeglicher Wendung der Dinge, der grössten wie der kleinsten.

Woher stammt aber diese unübertreffliche, nie wankende und nie fehlende Gesetzlichkeit? Augenscheinlich doch wohl von einer über Allem stehenden Gewalt, mögen wir sie Gott oder Schöpfer oder Herrn oder sonst mit einem Namen bezeichnen. Um den Wortausdruck wollen wir nicht hadern. Irgend Etwas, wie man es auch nenne, muss existiren, was der grosse Beherrscher des Stoffes ist, wie auch der Mittelpunkt alles Lebens, aller Bewegung, aller Kraft, aller Vernunft, Ordnung, Regel. Wer darf je aussprechen, dass das All todt sei? Was hätte eine todte, ohne Gesetz gelassene Natur (Schöpfung) zu bedeuten, wenn eine solche überhaupt möglich wäre? Nichts als ein Chaos, und selbst dieses müsste von Grund aus starr und regungslos erscheinen. Denn eine jede etwanige Regung der Materie, auch eine zufällige, würde ein unwiderlegbares Zeichen vorhandenen Lebens sein; denn selbst der angenommene Zufall verträte zum mindesten eine Aeusserung dessen, was Leben genannt werden muss, eine Art Herrschaft, wenn auch eine blinde. Ein todtes Chaos indessen wäre überhaupt etwas Unmögliches, etwas das nicht existiren könnte. Halten wir also daran fest, dass die Welt ein lebendurchdrungenes All ist, dessen Lenker am wenigsten der Zufall sein kann, der die Macht besitze, jene von unsern Augen angestaunte ewige Ordnung zu bewirken; denn sonst müssten wir unbedingt den Zufall als den Urheber dieser Ordnung betrachten, ihn den unvergleichlichen Meister der Natur nennen, welchem der Name Gott gebühren würde.

Sehen wir von einem Zufallsherrscher ganz ab und erklären weiter, dass der Mensch keine Wahl hat, als festzuhalten an dem von keinem wahren Weisen noch verworfenen Satze, dass die Vernunft das Zepter der Welt führe und ewiglich obenan stehe. Denn ein jeglicher Mensch würde sich selbst beschimpfen, wenn er der Vernunft diese Stellung in der Natur versagen wollte, weil er damit auch seine eigene Vernunft herabsetzte und ihre Würde läugnete. Ist doch das Höchste, was der Mensch hat, die Vernunft. Nichts Anderes darf er ihr vorziehen, ohne von der gesunden Bahn abzuirren. So ist es auch mit der Forderung, dass die Welt durch die Vernunft regiert werde: wir müssen schlechterdings annehmen, dass die Vernunft das Ganze lenkt, wenn wir anders nicht den Zufall zum König erheben wollen. Des letztern Missgriffes aber können wir uns, wie oben dargethan worden, nicht schuldig machen; wir müssen vielmehr der Vernunft in der Natur die Krone zuerkennen, wie wir sie auch unserer eigenen Vernunft zuzuerkennen gezwungen sind, gemäss unserer unveräusserlichen Würde. Es wäre daher eine gränzenlose Thorheit, den Willen an die Spitze des Weltalls stellen zu wollen, wie es neuerdings versucht worden ist, in der Absicht, anscheinende Unvollkommenheiten der Dinge auf die leichteste und verständlichste Weise zu erklären. Gebrechen (Unvollkommenheiten) giebt es aber nur für unsere menschlichen Begriffe und bei einseitiger Auffassung. Denn auch in dem, was uns mangelhaft dünken mag, herrscht das unwandelbarste aller Gesetze, nach welchem der von uns erblickte Mangel sich erklärt und aufhebt, das Urgesetz.' Nichts kann sich vollziehen ohne Gesetz, also muss auch dasjenige, was wir Sterblichen für gebrechlich ansehen, aus dem festen Gesetze folgen, welches unausweichlich seine Wirkung geltend macht. Der eintretende Fehler, den wir gewahren, ist ein durch das Gesetz bedingter, also natürlicher und unabwendbarer. Dem allmächtigen Handhaber der Bestimmungen, welche den Inhalt seines Gesetzes bilden, ist nicht zuzumuthen, dass er die Folge des von ihm Bestimmten abändere oder aufhebe. Wenn irgend eine Schwäche nach den festgesetzten Urbedingungen vorauszusetzen ist, so kann es nicht fehlen, dass diese Schwäche eintritt, also dasjenige, was wir das Böse, das Schlechte, das Leiden nennen; in das Gegentheil kann es vom Gesetzgeber nicht ausnahmsweise verkehrt werden, da er, ohne selbst in Schwäche zu verfallen, seine eigenen Gesetze nicht umstossen könnte: folglich wird er es auch nicht thun. Die Sonne sinkt am Horizont, also sinkt sie, wie es bestimmt ist. Niemand darf eine Veränderung ihrer Bahn fordern. Den Menschen erwartet, nachdem er geboren ist, Krankheit, Elend, Unglück, Tod. Von diesen Unannehmlichkeiten entspriesst die eine wie die andere aus den vorausbestimmten Gesetzen, welche die Erdenwelt beherrschen; sie sind demzufolge keine blinden Leiden, sondern nur natürliche Folgen. Aussergesetzlich trägt sich nichts zu; im Gegentheil wäre das Verlangen, die Uebel auszuschliessen, eine an den Gesetzgeber gestellte Forderung, derselbe solle auf ein ungesetzliches Gebahren sich einlassen. Dazu kommt, dass die Menschen selbst an vielem Unheil Schuld sind, an Krankheit, Schädigung, Verderben, Mord und frühzeitigem Untergange. Soll auch in diesen zahllosen Fällen die allmächtige Hand sich aussergesetzlich ausstrecken, um die Thor-heiten der Menschen zu verhindern? Die Erfüllung einer solchen Zumuthung würde die Erde zu einem Schauplatz hohler Puppen erniedrigen, die offenbar nicht verdienten, geboren zu werden. Was haben die Menschen zu thun? Sie sollen die Augen selbst öffnen lernen, um die ewig bleibenden Gesetze zu erkennen und mit dieser Erkenntniss den ihrer Wohlfahrt drohenden Gefahren zu entgehen und zwar allen Gefahren so weit als möglich, nur den Eintritt des Lebensendes ausgenommen, den Tod, welcher in das irdische Reich eingeschlossen ist, weil dasselbe ein Reich ist, worin Alles aufblüht und wieder abblüht. Wie ein Baum frühzeitig verdorrt, wenn er einen Schaden leidet oder in irgend einem Punkte mangelhaft ausgestattet dasteht, ebenso ergeht es auch dem Menschen: andernfalls grünen Bäume wie Menschen bis zum regelrechten Ablauf ihres Organismus, welcher letztere auf Erden, wie gesagt, kein ewig dauerhafter sein kann, weil es das Urgesetz nicht mit sich bringt, dass hier die Unsterblichkeit eintrete! Wenn wir den Satz aufstellen: Alles hienieden und die ganze sichtbare Welt ist schlecht, so sprechen wir nicht allein gegen unsere sinnliche Wahrnehmung und gegen unsere Erfahrung, sondern wir werfen zugleich jede Betrachtung und Philosophie kurzweg über Bord. Denn wozu sollte ein weiteres Nachdenken frommen? Wenn die menschliche Gesellschaft glaubte, dass Alles auf der Erde so schlecht sei als es nur sein könne (man hat es behauptet), so verdiente sie kein anderes Loos, als so schnell als möglich zu Grunde zu gehen; ja, sie würde sich auch nicht lange mehr halten.) Denn ein höchstes Wesen zu läugnen, ein allvernünftiges, wäre der kürzeste Schritt, der die Menschen zu Thieren herabbrächte; die Menschen würden bald keine Menschen mehr sein, sondern gefährliche Raubthiere werden, um so gefährlichere Geschöpfe, da ihrer sonstigen Eigenschaften wegen Niemand so gefährlich sein könnte, wie sie. Die fernsten Jahrtausende werden ohne allen Zweifel diesen Ausspruch für richtig erklären.

Wiederholen wir das Letztgesagte in kurzer Uebersicht. Der von der Vernunft ausgehende Denker sieht das All anders an, als die Materialisten und diejenigen, welche an Gott und Unsterblichkeit zweifeln. Er findet, so weit der menschliche Verstand und die menschliche Erfahrung heutzutag blickt, überall Ordnung in allen Stücken, überall Gesetz und Richtschnur. Er findet eine vollkommene Natur nach festen und unwandelbaren Normen: er findet bei dieser Wahrnehmung auch ein vernünftiges Ziel der Dinge, so weit er dem Gange der Natur nachzurechnen vermag, ein Ziel, auf welches eine vernünftige, allwaltende Macht augenscheinlich hinsteuert, um diejenigen Zwecke zu erreichen, welche die besten sind. Wir haben bei solcher Anschauung nicht nöthig, den göttlichen Lenker des Alls in die Materie zu verstecken, wie es die neueren Materialisten zu thun pflegen, indem sie Stoff und Kraft amalgamiren, ohne sagen zu können, was der Stoff ist, und wie die Kraft mit dem Stoffe verfährt. Ferner, der vernünftige Denker jammert nicht über die menschlichen Loose. Was wir hier auf der kleinen Erde für Mängel ansehen oder für unerfreuliche Vorgänge halten mögen, die man Leiden nennt, das verschwindet gegen jene harmonische Erscheinung der nächsten wie fernsten Natur (Schöpfung) wie ein leichter Nebel. Denn zum Ganzen hat dieser Nebel nichts zu sagen, wenn wir uns nicht thörichterweise einbilden, der Menschen wegen existire die Gesammtheit des unendlichen Weltalls, und nicht anmassend daraus folgern, auch den armen Erdenbewohnern gegenüber hätte es das nicht geben sollen, was wir insgemein Unvollkommenheiten, Qualen, Uebel heissen, indem wir verlangen, das irdische Dasein hätte wenigstens ganz anders gestaltet sein müssen, als in der Weise, die uns so unbegreiflich wechselvoll oder so oft ganz zufällig däucht. Menschen, die an der regelrechten Gestaltung der Dinge zweifeln, übersehen muthwillig, dass auf allmächtigen und wandellosen Gesetzen Alles beruht, was in und unter dem Himmelsgewölbe sich zeigt, gedeiht, untergeht, sich wandelt und erneuert. Gerade weil diese Gesetze eine ewige Geltung haben und haben mussten, kann auch die Natur der Erde keine andere sein, als sie uns sich darstellt. Wankten und schwankten die Gesetze, oder würden sie willkürlich gehandhabt, so müsste eine fabelhafte Unordnung sowohl auf unserer Erde, als im weitesten Weltall hausen, während wir doch rings, in nächster Nähe wie in weitester Ferne, eine so klare Ordnung walten sehen, dass bei gleichen Verhältnissen der nämliche Fall, auch wenn er zum tausendsten und millionstenmale einträte, auf die nämliche Weise vor unsern Augen passirt, so genau wie zum ersten Male und mit unfehlbarer Pünktlichkeit; bei veränderten Verhältnissen dagegen sehen wir, dass augenblicklich auch derselbe Fall sich ändert und zwar jedesmal wiederum auf die gesetzmässigste Weise und sofort einer jeglichen Veränderung entsprechend. Zuletzt wiederholen wir, dass es ein Gebot unsers Verstandes ist, die Fortdauer des Lebens vorauszusetzen, wie sie seit ältesten Zeiten schon vorausgesetzt worden ist; wir haben nämlich darauf hingewiesen, dass die zweifellose Gewissheit, der Stoff könne nicht unauslöschbarer sein als der Geist, der in dem Stoffe gewohnt hat, unserem Verstande den natürlichen Gedanken der Unsterblichkeit aufnöthigt.

Die ächte Naturforschung also strebt, wie gesagt, nicht dahin, das Wesen der Gottheit unmittelbar zu entdecken und jene obigen Fragen von unermesslicher Tragweite, zum Heile des Menschengeschlechts, ehebaldigst abzuschliessen. Sicher und gewiss ist es ausserdem, dass keine umsichtigen Denker die Hoffnung hegen, selbst in den fernsten Jahrtausenden werde sich einmal die Aufhellung der letzten Geheimnisse erreichen lassen. Demungeachtet sind die Ziele der wahren Forscher die erhabensten, welche je der Menschengeist sich stellen kann. Denn worauf ist diese Forschung, diese ununterbrochene Arbeit, diese unermüdliche Sorge gerichtet? Auf die tiefste Erkennung der Erde wie des Himmels, auf die Betrachtung der Erscheinungen des letztern und auf die Prüfung der grössten und kleinsten Organismen, deren Vorhandensein auf der Erdrinde und innerhalb derselben wahrgenommen wird. Ferner will der Forscher Alles aufgreifen und aufhellen, was immer die unorganische Materie in sich verborgen halten mag, um aus ihren Bestandteilen jeden Funken herauszulocken, welcher dem Menschen dienlich sein kann und geeignet ist, seine Wohlfahrt, seine Bildung und seine von ihm angetretene Herrschaft über das Erdenrund zu erweitern. Eine Menge Räthsel giebt es, die noch nicht gelost sind, ausserdem unzählige, an deren Lösung man noch nicht einmal gedacht hat: ja, sie häufen sich in das Endlose mit jeder neuen Lösung selbst. Dass Fortschritte gemacht werden, erkennen wir sattsam aus den Entdeckungen, die von Jahr zu Jahr sich mehren. Auf welcherlei Fortschritte aber dürfen wir uns berufen, die mit unserer Betrachtung der Mythologie in Verbindung zu bringen wären? Was verdanken wir der heutigen Naturwissenschaft, wenn es sich um Ursprung, Alter und Werthschätzung des mythologischen Reiches handelt? Eine äusserst wichtige Anschauung für das letztere.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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