Einleitung I: Die Naturwissenschaften

Einleitung

Einleitung I: Die Naturwissenschaften

Einleitung

Die Naturforscher bieten uns ein Bild von den frühsten Zuständen der Erde. Wahrnehmung reihte sich an Wahrnehmung und man zog Schlüsse aus dem, was man gefunden hatte, mit einer Zuversichtlichkeit, als ob Augenzeugen zugegen gewesen wären in den langen Zeiträumen, innerhalb welcher, allem Anscheine nach, die Gestalt unseres Planeten sich entwickelte und so ausbildete, wie sie gegenwärtig vor uns tritt. Kühn genug sind diese Schlüsse, da es bisher kaum verstattet war, einige wenige Buchstaben in dem grossen und unerschöpflichen Buche der irdischen Dinge zu lesen und zu deuten. Das müssen wir uns bescheiden eingestehen, ohne dass wir damit die Erhabenheit des Zeitalters verkennen, in welchem wir leben, die riesenhaften Anstrengungen gelehrter Untersucher und die Ergebnisse, die sie schon erzielt haben, die gewaltigen neuen Entdeckungen auf allen Gebieten der Naturwissenschaft und die Fortschritte der Kenntnisse für weitere Erfolge. Ebenso achten wir die Aufopferung zahlloser muthiger Männer zu Land und zu Wasser, die bemüht sind, die seither unerschlossenen Strecken der bewohnten und unbewohnbaren Erdtheile aufzuschliessen und zugänglich zu machen. Wie elend erscheinen diesem Bestreben gegenüber die wilden Bewegungen des Mittelalters, die wechselseitigen räuberischen Anfälle der Völker, die jammervollen, blutverschwendenden Kreuzzüge, die gesetzlosen Mordfehden im Innern und das Gebahren des Stärkeren im Niedertreten des Schwächeren. Die Menschen glichen damals weit und breit jenen Raub-thieren, die einst unter einander wüthend die Erde überschwemmt hatten; nur waren sie schlimmer als Raubthiere und gefährlicher, weil sie höhere Kräfte besassen. Es kommt uns jetzt wahrlich vor, als ob die Sonne Jahrhunderte lang über Europa verfinstert gewesen wäre, dieselbe Sonne, die in antiken Zeiten so vielen Völkern ungleich heller geleuchtet hatte. Selbst die geographischen Gränzen früher bekannter Landstriche und wohlvertrauter Meere waren den Lebenden gleichsam unter den Händen wieder verloren gegangen. Die traurige Lage der Menschen änderte sich endlich durch die Entdeckungen des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts, die allbekannt sind; diesen Entdeckungen, welche nach und nach eine glückliche Morgendämmerung der Kultur zurückführten, stehen die gewonnenen, herrlichen Aufschlüsse unseres neunzehnten Jahrhunderts würdig zur Seite. Mit Recht bestaunen wir die tagtäglich sich mehrenden wundervollen Erfindungen im Reiche der Natur und die erweiterten Blicke des Geistes in die Wissenschaften. Wir sind an Er-kenntniss dem Himmelsgewölbe mit seinen in weitester Ferne glänzenden Sternen und unserem eigenen Sonnensysteme näher getreten; wir haben die unter unsern Füssen rollende Erde weiter und weiter beschritten und die Zügel der Herrschaft über dieselbe straffer angezogen, als je zuvor und als man je geahnt hatte.

Demungeachtet fehlt noch zu viel, als dass die heutigen Forscher pochen könnten auf das Erreichte und ihrer Ansicht nach schon Begründete. Die Weisesten gerade sind es, die nie vergessen, mit Zurückhaltung zu urtheilen, weil sie die Un-gewissheit anerkennen, die ihre Fusstapfen umgiebt. Noch vieles ist ja wie mit sieben Siegeln verschlossen; Nordpol und Südpol des Erdkörpers, wie auch zahlreiche Striche des Festlandes sowohl, als der Inseln, sind uns noch vollkommen unbekannt, noch ist die Erdrinde kaum in ihrer alleräussersten Oberfläche und obendrein erst an wenigen Stellen aufgedeckt worden, während die Grundfeste des die Hochlande umfluthenden ungeheuren Wasserspiegels dem Untersucher fast ganz unzugänglich erscheint. Wie viel dürfte noch von der zwar weit gediehenen, aber noch nicht vollständigen Einsicht in die Beschaffenheit des fernen Sonnenlichts abhängen, wie viel möchte uns eine zuverlässigere Kenntniss der nahen Mondscheibe nützen, wie heilsam möchten so manche erst leichthin erkannten Naturkräfte auf die Loose der Menschheit einwirken! Wie wenig andererseits ist der Geist selbst erforscht, der in unserem Innern lebt und waltet, und der unbestreitbar das Ding der Dinge ist, an welchem uns liegen kann! Genug, wir sehen daraus, dass für künftige Thätigkeit das weiteste, ja, unbegränzteste Feld offen steht, und wohl ist uns vergönnt zu hoffen, dass dermaleinst die jetzigen Ansichten, so weit sie vernünftig sind, eine immer festere oder genauere, oder auch vielleicht eine ganz andere Grundlage erhalten werden.

Darauf aber warten diejenigen nicht, die auf der Oberfläche schwimmen. Sie werfen das kecke Wort hin: «wir wissen bereits so viel und zugleich sicher und zuverlässig, dass es jetzt möglich ist, abzuschliessen mit allem seit Jahrtausenden Geglaubten, Gedachten, Gewähnten.» Sie rufen ohne Weiteres aus: «wir dürfen aus den neuen Untersuchungen abnehmen, dass jenes Ziel erreicht ist, welches uns nicht blos erlaubt, sondern sogar gebietet, alle vormaligen Ueberlieferungen als veraltete Irrthümer abzustreifen; Tröpfe sind jene, welche vor den jetzt bewiesenen That-sachen die Augen verschliessen und die Konsequenz der aus ihnen ziehbaren Folgerungen länger abläugnen wollen.» Denn nach ihrer Behauptung «sind wir nun im Stande, die Tiefe jener Geheimnisse, die so lange für unergründlich galten, sattsam zu erleuchten, nachdem die Materie oder der Stoff, welcher mit dem Geiste seine Verbindung hat, so weit durchschaut und blossgelegt worden ist.» Von der Zukunft erwarten sie keine Widerlegung, sondern sie setzen vielmehr voraus, dass durch fortschreitende Forschung das von ihnen erkannte Ergebniss, unter Beihülfe neuer That-sachen, die vollste Bestätigung erfahren werde. So bringen sie denn die bestimmtesten Schlüsse über Sein und Nichtsein zu Markte, stellen eine scheinbar hochgesetzliche, in Wahrheit aber verkehrte Weltordnung auf und tragen kein Bedenken, die Fortdauer des Menschengeistes zu verneinen, sintemal das Leben des Menschen an den irdischen Organismus geknüpft sei, mit diesem entstehe und zerfalle, auch überhaupt in seiner zeitweiligen Dauer an ihn gebunden sich offenbare. Also sei der Geist nichts Selbstständiges oder ausser dem Körper Denkbares, sondern hänge ganz und gar von der zufälligen Beschaffenheit des Organismus ab, namentlich des Gehirns, dessen Produkt er lediglich sei. Mit stolzer Zufriedenheit versichern sie: »das ist die Wahrheit, alles Andere Blendwerk und Selbsttäuschung.» Das Höhere und Höchste, was eine Menschenbrust ahnt und hofft, geben sie für lächerlich aus, für eitel und erlogen; sie wollen nichts von ewigen Dingen wissen, das Grosse ist in ihren Seelen erloschen und erstorben, vorausgesetzt, dass sie je befähigt waren, göttliche Gedanken zu fassen und den Himmel wie die Erde aus gesunden Sinnen anzuschauen, also wenigstens den Heiden gleichzukommen, die diese Fähigkeit hatten. Sie stehen daher den Heiden nach, da sie nichts gelten lassen wollen, ausser was sie, wie man zu sagen pflegt, mit Händen greifen können. Der Name Materialisten ist der Ehrenname, den sie selbst sich beilegen.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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