Einleitung I: Die Religion und die Priester

Einleitung

Einleitung I: Die Religion und die Priester

Einleitung

Tiefere und tiefere Gedanken also erfüllten die aus Nacht sich losringenden Menschen, welche ihr Sehnen zu schildern suchten, ihr Hoffen und Fürchten. Getragen von den Flügeln einer schöpferischen Phantasie, arbeiteten sie ruhelos und unermüdlich darauf hin, das unbefriedigende Diesseits mit einem schöneren Jenseits zu verbinden. Sie ersannen ein Reich von höheren und höchsten Göttern, Geistern und Dämonen, welche in das Diesseits hineinragten, Einfluss ausübten auf den Ursprung von Sein und Werden, die Geschicke beherrschten, belohnten und straften und irgend ein Fortleben nach dem Tode erwarten Hessen. Der endliche Sieg des Guten wurde fast ohne Ausnahme vorausverkündigt, besonders bei den Persern und Germanen. In der Wirklichkeit gab es freilich weder Götter noch Geister, aber man glaubte an sie, wähnte sie zu sehen oder gesehen zu haben, mit ihnen zu verkehren und ihre Hand zu empfinden. Man rief sie betend an, um die einen zu versöhnen, die andern zu beschwören und unschädlich zu machen. Selbst die äussere Natur glaubte man ihnen unterworfen, die Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Erde; Krankheit und Tod, Gesundheit und Leben, Sieg und Niederlage ruhten in ihren Entschliessungen und Befehlen, in ihrer Gnade und in ihrem Zorn. Das, was man Religion heisst, baute sich tillmälig zusammen. Warnungen, Vorschriften und Gebräuche erhielten Geltung, allerlei theils sinnreiche, theils unsinnige Moden wurden gäng und gäbe, freiwillige Peinigungen, Opfer, heilige Einrichtungen, priesterliche Dienste, Bekenntnisse der Sünden und deren Vergebungsweisen. Es trat sehr frühzeitig eine religiöse Knechtung auf. Das schöne Trachten nach Entwilderung des Menschengeschlechts wurde durch eine willkürliche Beherrschung des Geistes häufig wieder ziirückgedämmt. Der Glaube artete aus, die Finsterniss erneute sich, welche einst geherrscht hatte, und die Völker versanken in ihre vormalige Rohheit der Sitten zurück, um dem Untergange anheimzufallen, welchem ihre Ahnen zu entgehen bemüht gewesen waren, als sie über ihr Selbst nachsannen. Eine ähnliche Kampfperiode, wie jene, wo die Menschen mit der Ueberlegenheit der Bestien gefochten hatten, brach an: es gab schliesslich einen Kampf um die Kultur, in welchem die Barbarei beinahe abermals obsiegte, einen grausenhaften langen Kampf.

Das ist der Gang und Verlauf der Mythologie, welche mit dem ersten geistigen Erwachen beginnt, und ein Produkt unzähliger Geschlechter ist. Ein weiter, ein sehr weiter Schritt war es, von der Verehrung irgend eines Dinges, das verehrungs-würdig schien, bis zur erhabenen Annahme eines Gottes emporzusteigen oder sich ein unsichtbares Wesen vorzustellen, welches die Welt beherrscht.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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