Ewiger Jude

Ewiger Jude

Ein Schuhmacher in Jerusalem, vor dessen Hause Christus ausruhete, als er, unter der Last des Kreuzes fast erliegend, nach der Schädelstätte ging. Der Jude trieb Christus von dannen; dieser sagte: ich werde ruhen, du aber sollst gehen bis ich wiederkomme. Seit dieser Zeit wandelt Ahasverus (so hiess der harte Mann) von Ort zu Ort, ohne Ruhe zu haben; er kann nicht sterben, er hat sich in die wildesten Schlachten gestürzt, doch die Pfeile und Speere weichen ihm aus; er springt in's Meer, die Wellen tragen ihn an's Ufer; er will einen Dolch in seine Brust bohren, es ist, als ob ein eherner Panzer sie deckte; das Feuer verliert an seinem Leibe die Kraft; um zu leben braucht er nicht der Speise, kann also auch nicht verhungern, sein Körper unterliegt alle Jahrhunderte einer Krankheit, in welcher er sich völlig erneuert, und dann mit dem Ansehen eines Mannes von einigen dreissig Jahren wieder seine Wanderung antritt. So wandelt er fast 2000 Jahre, so wird er wandeln bis zum jüngsten Tage, bis der Erlöser kommt und ihn mit allen übrigen Menschen erlöst. In den Evangelien ist keine Andeutung, auch nicht die entfernteste, welche auf diese Legende hinwiese, man kennt die Entstehung derselben nicht, sondern weiss nur, dass Matthäus Parisiensis, ein Mönch des dreizehnten Jahrhunderts, zuerst dieselbe schriftlich in einer Reihe von Legenden mitgetheilt hat; sie ist vorzugsweise in Deutschland bekannt und sowohl von Betrügern, welche sich für den ewigen Juden ausgaben, für ihre niedrigen Zwecke, als auch von Dichtern zum ästhetischen Gebrauche benützt worden.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874