Einleitung I: Die Vielgötterei

Einleitung

Einleitung I: Die Vielgötterei

Einleitung

Unter den Göttern des Sternkultus, welcher die erste Vielgötterei erzeugte, hat sich die Anbetung der Sonne, wie wir vor allen Dingen bemerken wollen, nicht nur am weitesten über die Erde ausgebreitet, sondern auch, obwohl mehr oder weniger modifizirt und geringer geschätzt, am längsten erhalten. Denn die Sonne wurde von sehr späten Völkern immer noch als ein Gott betrachtet, nachdem von ihnen bereits andere Götter angenommen und an die Spitze gesetzt worden waren, die man nun als höhere und mächtigere Wesen verehrte, so dass die Sonne ihrer obersten Stellung verlustig ging. Wir treffen sie namentlich bei den Indern, Persern, Griechen, Römern und Germanen als eine fort und fort gefeierte männliche Gottheit an. Oberster Gott blieb sie, wie es scheint, bei den Aegyptern, dagegen in Indien wich der Indra, wie sie hiess, neuen Obergöttern; also verlor sie an Ansehen gegenüber andern Göttern der genannten Völker. Unerwähnt lassen wir die scheussliche Ausartung des Sonnendienstes unter den syrischen und phönizischen Stämmen, deren Gott Moloch oder Baal hiess, ein hohles in Glut gesetztes ehernes Bild, welches zahllose Opfer von Knaben und Mädchen verbrannte, während Pauken und Flöten das Jammergeschrei der in entsetzlicher Weise Gemarterten übertönten. Verbunden war diese ruchlose Mordgier mit einer unbeschreiblichen Verwilderung der Sitten gegenüber einer weiblichen Gottheit, der speerbewaffneten, jungfräulichen Astarte. Unmenschliche Grausamkeit und bestialische Wollust paaren sich durch eine eigenthümliche Verwandtschaft, laut der Geschichte, zu allen Zeiten. Barbarische Kriege, die Inquisition des Mittelalters (durch die Jesuiten so lange als möglich gepflegt), und die Mörderei der Franzosen am Ende des achtzehnten Jahrhunderts sind Kleinigkeiten gegen den eingeführten Massenmord des Sonnengottesdienstes, der eine geraume Epoche gedauert hat. Wir finden mit ihm nur einen einzigen Vergleich: die Wildheit des alten Mexikanervolks, welche Cortez am Gestade von Verakruz gelandet antraf; leider sollte diese unmenschliche Verirrung der Azteken durch die Verrücktheit spanischen Christenthums ersetzt werden. Die Menschenfresserei in Mexiko und anderwärts hatte aber wenigstens eine Entschuldigung, das Bedürfniss, den Appetit mit solchem Fleische zu befriedigen, welches einst das schmackhafteste schien. Das war bei dem Sonnengottesdienst eines Moloch oder Baal nicht einmal der Fall. Die Verehrer desselben weihten unschuldige Kinder dem unbarmherzigsten Feuertode, einer Tödtungsart, gegen welche die Ertränkung neugeborner Sprösslinge in China, von der man noch bis zur heutigen Stunde hört, so mild ist wie die Ersäufung junger Katzen, die man vornimmt, um das Ueberwuchern dieser Thiergattung zu verhüten. Die Bosheit der Priester erfand diese Scheusslichkeit des Molochdienstes, damit sie ihre Herrschaft stärkten und befestigten, wie sie überall zu thun suchten, wo sie einmal an das Ruder gelangt waren; bei den Persern dürfen wir nur an den Trug der Magier erinnern. Die Priester rissen, wo sie konnten, unter dem Deckmantel der Religion jeglichen Einfluss an sieh, indem sie den Menschenmord nach Gutdünken heiligten. So brachten denn die Molochdiener das Mährchen auf, die Menschen müssten die verzehrende Glut des Sonnengottes versöhnen; eine von gränzenloser Verruchtheit ausgedachte Erfindung, welche Schelling, wie wir sehen werden, gewissermassen natürlich erachtet und nach seinem System verarbeitet.

Wir gehören nicht zu den Gottesläugnern, die neuerdings sich aufgethan haben, weil es äusserst bequem ist, Alles zu verneinen. Vielmehr glauben auch wir an einen allgewaltigen Urgeist, der durch das AI sich offenbart hat und über dem All schwebt, auf den von ihm ausgegangenen unwandelbaren Gesetzen ruhend, die einem ewigen Fortbau der Natur zu Grunde liegen. Nichts.Anderes als die Vervollkommnung kann das Ziel sein, nach welchem hingesteuert wird, und welches für das Menschenauge in eine ebenso unabsehbare Ferne verschwimmt, wie es unabsehbar hinter ihm liegt. Ein ewiges Suchen aber ist der Menschheit vergönnt und ist gerechtfertigt. Wir nehmen also ein solches Numen in und mit dem All unbedingt an. Wäre es nicht von Uranfang oder vielmehr ohne Anfang vorhanden gewesen, so müsste uns die Gesammtheit der Dinge als ein Werk des Zufalls erscheinen, und einen Zufallsgott, wie gesagt, weisen wir mit guten Gründen ab.

Demungeachtet sind wir ausser Stande, uns mit dem Schelling'schen Numen zu befreunden. Unser Philosoph räumt demselben einen übernatürlichen Einfluss auf die gesammte Natur ein, der nicht gesetzmässig wäre, sondern mit der Handhabung der Gesetze sehr seltsam verführe. Denn wie sollten wir uns die sonderbare Annahme erklären, dass dieses Numen erst auf die ungetrennte älteste Menschheit mit so erhabenem Geiste eingewirkt und gleichsam die Glückseligkeit eines Paradieses ausgespendet habe, wie es in der früheren Epoche der Sternverehrung der Fall gewesen sei, in der späteren aber nicht, als die Menschheit getrennt war. Wir könnten dann nicht umhin, auf die Meinung zu verfallen, dass jenes Numen eine ziemliche Zeit lang sein Antlitz abgewandt, achtlos oder mit Absicht die Ausübung seiner Einwirkung unterlassen hätte, obendrein in einem solchen Grade von der Erde sich zurückgezogen haben müsste, dass der grösste Jammer ausgebrochen, der elendeste Rückschritt zur Thierheit eingetreten sei. Die Schelling'sche Erklärung genügt mit nichten, um die Notwendigkeit einer derartigen Wendung darzuthun. Wir sehen, die Menschheit zertrennte sich (mit unserm Philosophen vorausgesetzt, dass sie einst unzertrennt war) in einzelne Rotten, und die Priesterschaft führte diese Rotten an, so dass die schauderhaftesten Rohheiten, die wir oben angedeutet haben, weithin auf der Erde einrissen. Warum, muss man fragen, hat das Numen dergleichen Rückschritte gestattet, seine Allgewalt nicht fortgesetzt, sondern gleichsam seine Hand fallen lassen, die es ehedem über die Sterblichen gehalten hatte? Was Schelling's System von Gegensätzen, Widerstreit oder Spannung der Potenzen spricht, ist eine künstliche Ausflucht. Denn war Gott durch das All geworden, so müsste er auch seine Gesetze nach wie vor in der ihn offenbarenden Natur walten lassen und den Geist der Menschen sammt ihrem äusseren Leben so zu beherrschen fortfahren, dass sie nicht von der bereits gewonnenen Erkenntniss eines höchsten Wesens abfielen; er müsste ihnen einen Riegel vorschieben, dass sie ihre ganze Begabung, ihre Sinne und ihr Nachdenken nicht auf Scheusslichkeiten der ärgsten Art richteten. Das Schelling'sche Numen hat diess nicht gethan oder konnte es nicht thun; dem Wesen desselben fehlt es an demjenigen, was wir Konsequenz, Aufmerksamkeit, Treue nennen! Ein solches mangelhaftes Numen aber konnte es niemals geben. Daraus folgt, dass wir den Einfluss der göttlichen Urmacht auf die menschliche Entwicklung anders fassen müssen, nämlich so, dass die Menschen sich unter dem für das All und für sie gegebenen Gesetze des Prius fortbewegten, nach den ihnen verliehenen Kräften und nach der äusseren Umgebung ihre Bildung verfolgten, hier schneller, dort langsamer vorrückten oder auch wieder zurückschritten. Alles nach gesetzlicher Regelung in allen Fällen.

Wie gelangte man nun überhaupt zur eigentlichen Vielgötterei? Ganz wohl hat Schelling eingesehen, dass an einen plötzlichen Wolkenbruch der Mythologie, der über die Menschheit zur Bereicherung ihrer Vorstellungen hereingebrochen wäre, nicht zu denken sei. Auch nach ihm, wie gesagt, war die Entwicklung geistiger Ideen eine successive, nicht eine, die Alles auf einmal in raschem Wurfe gebracht hätte. Eines knüpfte sich an das Andere, so oder so. Aber freilich versteht er diese Successivität der Entwicklung auf seine Weise, nicht auf unsere, wenn er sich folgendermassen darüber hören lässt. Verwerflich und unhistorisch dünken ihm die seitherigen Theorien, nach welchen zur Erklärung der Mythologie nichts weiter erforderlich werde, als dass eine willkürliche Phantasie, nach Belieben oder nach zufälliger Einsicht, jetzt diesen, jetzt einen andern Gegenstand aus der Natur heraushebe, um eine Eigenschaft oder irgend ein Vermögen desselben persönlich zu machen (zu personifiziren). Nach einer solchen Theorie gebe es, wie man leicht sehe, keine gesetzliche Aufeinanderfolge, keine bestimmte Abstufung in der Entstehung der mythologischen Vorstellungen. Gewöhnlich lasse man dieses Personifiziren von den nächsten Erscheinungen und Kräften anfangen, wie diess auch (eine solche Entstehungsweise angenommen) ganz natürlich sein würde, indess geschichtlich die Mythologie in der That vom Entferntesten, vom Himmel angefangen habe. Das Letztere indessen ist eine Schelling'sche Behauptung, die wir im Obigen für das Gegentheil erklären mussten, für ungeschichtlich. Umsonst fügt er daher zur Begründung seiner gegen die gewöhnliche Theorie gerichteten Zweifel hinzu: so früh sich auch dem Menschen der wohlthätige Einfluss der Himmelslichter bemerklich gemacht haben möge, andere konkrete Gegenstände hätten ihm doch materiell näher gelegene Letzteres ist sehr richtig, denn wir haben gesehen, dass die Verehrung der Fetische von solchem Punkte ausgeht. Schelling fährt fort: gesetzt, man liesse dieses Personifiziren zufällig vom Himmel anfangen, entweder dass die Weltkörper selbst, oder die sie bewegenden und umtreibenden Kräfte als Götter vorgestellt wurden, so wäre doch kein Verweilen. Dieses willkürliche Personifiziren, einmal im Zug, würde nicht säumen, auch mit den andern, mehr speziellen Naturkräften dasselbe zu thun; es würde also der ganze Haufe der mythologischen Vorstellungen im bunten Durcheinander auf einmal entstehen. Davon ist die Nothwendigkeit keineswegs einzusehen. Auch das, was in den Zug kam, konnte ja auf die langsamste und natürlichste Weise nach und nach vervollständigt werden, je nachdem begabte Individuen die Vorstellungen ihres Geistes von Zeitalter zu Zeitalter fortsetzten und erweiterten. Daher fällt auch die angeknüpfte Behauptung in sich selbst zusammen: ein solches Aufeinmalentstehen im bunten Durcheinander sei gegen alle Geschichte und ein neuer Beweis, wie sehr jene Theorien, die sich angeblich auf dem rein empirischen Standpunkt halten, vielmehr der wahren Erfahrung, welche hier die wahre Geschichte sei, entgegenstünden. Denn die Geschichte zeige mit unwiderleglicher Bestimmtheit, dass ln der Mythologie verschiedene Systeme nacheinander hervorgegangen wären, eines dem andern gefolgt, und je das frühere dem spätem zu Grunde gelegt worden sei. Der letztere Satz lässt sich heutzutag ebenso gut auf die gewöhnlichen Theorien anwenden, und durch diese wird der geschichtliche Verlauf nirgends bestritten, wie wir oben gezeigt haben, indem wir auf die allmälige geistige Entwicklung des Menschengeschlechts hinwiesen, die ihre Anfänge unendlich weiter zurückzudatiren hatte, als Schelling ahnte. Das Personifiziren hing von der Einsicht einzelner Völker ab; was hier gefunden war, ging später dahin oder dorthin über, ohne dass wir dadurch genöthigt sind, auf Gleichzeitigkeit und auf Gleichmässigkeit der wirkenden Phantasie hinauszukommen. Es versteht sich also von selbst, dass wir auch in der empirischen Theorie keine gesetzlose Entwicklung der Mythologie statuiren, sondern das Gegentheil, wie unser Standpunkt darthut. Denn wir läugnen nochmals entschieden, dass mit der Anregung durch sinnliche Eindrücke und auf dieselbe gebaute Schlüsse, wie unser Philosoph an einer andern Stelle wiederholt versichert, eine zufallige Entstehung nothwendig verbunden sei. Für die Feststellung seines Systems bedurfte er freilich dieser Behauptung, die er jedoch ausser Stande war zu erweisen. Denn er kannte nicht das Ergebniss der heutigen Naturforschung, welche die leibliche und geistige Entwicklung der Menschen endlich vor unser Auge geführt hat; von Zufälligkeit kann nicht mehr gefabelt werden, sondern gesichert ist die klare Gesetzlichkeit, nach welcher sich das Innere und Aeussere von jeher entfaltet hat und immerdar entfalten wird.

Wie aber gelangen wir nun auf den Weg, die Entstehung der Vielgötterei zu erklären? Durch folgende natürliche und einfache Annahme. Als die Menschheit, vom Fetischismus ausgehend, im Bewusstsein die Existenz eines Gottes aufnahm, nachdem sie weiter und tiefer nachgesonnen hatte, so liegt es doch handgreiflich vor, dass sie mit klugen Augen die Sonne bemerkte, die klar und wohlthätig am Himmel glänzte, ja, die man auch für sehr nahe halten mochte, da man von Entfernungen noch gar keine Vorstellung und Erfahrung hatte. Ein Gott war denn aufgefunden, und die Entdeckung eines solchen verbreitete sich von einem Beschauer zum andern, man fing an eine Gottheit sich zu denken, und was man glaubte, griff hier durch und ging dort auf andere Völkerschaften oder Horden über. Wiederum dachten Einzelne im Verlauf der Zeit weiter nach, als der erste Gott, der Sonnengott, so entschieden erkannt war, dass sein göttlicher Rang ausser allem Zweifel stand. Mit dem Einen Weltherrscher begnügte man sich nicht mehr, auch vor andern Erscheinungen am Himmel fühlte man Ehrfurcht und Furcht, und so blieb nichts Anderes übrig, als dass man auch in ihnen göttliche Wesen sah und auf den Gedanken gerieth, untere Götter zweiten Rangs oder Nebengötter von besonderem Machtbereich in die Weltregierung einzusetzen.

Schelling dagegen träumte von einem überirdischen Zwange, der auf den Geist der Menschheit ausgeübt worden sei. Diesen Traum lassen wir nicht gelten, sondern sehen hier nur die Folge einer natürlichen Fähigkeit im Menschen, den ersten Gottesbegriff auszudehnen und weiter zu begründen: man hatte für's Erste keinen Grund, blos mit Einem vorlieb zu nehmen. Nach Schelling war der Zabismus (Sabäismus) selbst für sich noch unmythologisch und ungeschichtlich; denn, sagt er, jene Götter, die im Zabismus verehrt wurden, waren noch weit von menschenähnlichen Göttern und solchen, die man durch Bilder darstellen zu können glaubte, entfernt. Der Zabismus nämlich sei anfangs keine Idolatrie gewesen.

Was den letzteren auf den Sterndienst bezüglichen Punkt anlangt, so hat er seine Richtigkeit, aber er erklärt sich auf das einfachste aus dem Umstände, dass die Menschen einer so frühen Epoche noch nicht die Fähigkeit hatten, Bilder irgend einer Art zu formen, ja, dass sie wohl nicht einmal die Möglichkeit ahnten, Bildnisse zu verfertigen von sich und andern Organismen, geschweige denn von unsichtbaren Wesen. Bei der weiteren Entwicklung der mythologischen Elemente, die auf den Sterndienst gefolgt sind, fand sich dann diese Möglichkeit, und der Versuch blieb nicht aus, die Gestalten jener mit Hülfe ihrer Phantasie entdeckten Gottheiten durch allerlei besondere Formen zu versinnlichen, so schlecht sie zunächst auch ausfallen mochten. Nun hatte man etwas Sichtbares vor sich, das man anbeten konnte; alsdann tauchten die Priester auf, die sich den Beruf aneigneten, die gesammte Götterverehrung in ihre Hand zu nehmen, sie zu leiten und zu beherrschen. An den Bildern, die sie machten oder machen Hessen, hatten sie noch keinen genügenden Anhalt; sie erfanden desshalb eine Menge für den Kultus nützlicher oder anwendbarer Dinge, schrieben Ceremonien, Opfer und Gebräuche vor, wählten feste Stätten aus, wo der Dienst des einen und des andern Gottes statthaben sollte, und befahlen die Gründung von Hainen, den Bau von Altären und Tempelhäusern, die Einrichtung von feierlichen Versammlungen, prächtigen Aufzügen und heiligen Festtagen.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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