Carthager

Carthager

(Mythos der). Die Carthager hatten, wie ihre Stammeltern, die Phönicier, eine sehr wenig ausgebildete Mythologie. Was Römer oder Griechen uns berichten, ist desshalb zweifelhaft, weil sie stets die Götter anderer Völker mit den ihrigen verglichen, oder sie einander gleichstellten; doch ist so viel gewiss, dass die Religion der Carthager ein Zweig des Feuerund Sternen-Dienstes, welcher in Phönicien und dem ganzen Orient verbreitet war, gewesen ist. Im Allgemeinen hatten sie, wie jene, einen Polytheismus von roher, höchst barbarischer Form. Ihr oberster Gott scheint Moloch oder Baal gewesen zu sein, die Sonne, welche alle Stämme von Canaan und den angrenzenden Ländern und Wüsten unter diesen Namen anbeteten. Astarte, die zweite Hauptgottheit, was das empfangende Princip; ihr Dienst war noch wilder und ausschweifender, als der Venusdienst auf Cythere oder der Dienst der Anaitis, und Carthago war desshalb von den Römern Regnum Veneris genannt. Dieser Cultus erstreckte sich bis weit in die christliche Zeit hinein; Kaiser Constantin und später Theodosius mussten noch Befehle gegen denselben erlassen. Eine dritte Gottheit war Melcarth, der mit dem lyrischen Hercules die meiste Verwandtschaft gehabt zu haben scheint. Die Verehrung des Esmun wird mit der des Aesculap verglichen; die Verehrung der Ceres und der Proserpina ist aus Sicilien, und die des Iolaus aus Sardinien, der ältesten Colonie von Carthago, dahin gekommen. Einheimische Heroen aber sind: Dido, welche mitten in der Stadt einen grossen Tempel und einen heiligen Fichtenhain hatte; Hamilcar, welcher während einer Schlacht mit den Syrakusern sich selbst in den Scheiterhaufen eines Hecatombenopfers stürzte, als er sah, dass sich der Sieg auf Seite der Feinde lenke, um diesen wieder auf seine Seite zu ziehen. Auch die Carthager hatten, wie die Römer, ihren Feldgottesdienst, ihr tabernaculum augurale, welches unter einem heiligen Gezelt, nebst einem Opferaltare, stand, der bei grösseren Opfern, bei Festhecatomben, einem Scheiterhaufen Platz machte. Dass sie Penaten und Laren, Hausgötter hatten, ist gewiss; so auch, dass sie dieselben auf Reisen mit sich umherführten, wie Hannibal deren so grosse bei sich hatte, dass er in dem hohlen Innern derselben seine Schätze verbergen konnte, als er aus Creta floh. Die Carthager hielten die hohen Berggipfel für Wohnungen der Götter, und gaben in dieser Beziehung neu entdeckten Bergen Namen, wie Götterwagen, Götterthron (auf der Küste Guinea, welche Hanno befuhr), nahmen auch keinen unterirdischen Tartarus, kein dort befindliches Elysium an, sondern versetzten die seligen Geister als gute Dämonen in die höheren Lüfte, die bösen in die niederen Regionen. Eine eigene Priesterkaste, wie die Aegypter und Indier, mögen sie nicht gehabt haben; Feldherren, Personen des Raths, Könige verrichteten die Opfer, und so war die geistliche Würde mit einer oder der andern weltlichen verknüpft; sie war daher auch nicht allzuhoch geachtet. Die Carthager, obgleich sie 700 Jahre hindurch mächtig und gross waren, blieben doch, bis zum letzten Augenblick ihrer Existenz, durch die barbarische, blutige Religion grausam und hart, keiner Verbesserung fähig, durch ihre Menschenopfer ein Gegenstand des Abscheues aller gesitteten Nationen. Der Aberglaube des Volkes war wilder, unmenschlicher Art, und verschonte nicht einmal die eigenen Landsleute, und der Handelsgeist, nicht durch milde, freundliche Götter beseelt, wirkte bei ihnen nachtheiliger auf die Sitten, als bei vielen andern Völkern. Mancher carthagische Feldherr musste am Kreuze sterben, weil er im Felde unglücklich gewesen; unterjochte Völker wurden auf das Schauderhafteste gemisshandelt, die sämmtlichen Bewohner grosser Städte schonungslos niedergemetzelt, die Leichname aus den Gräbern gerissen, die Tempel zerstört, die Götterstatuen zerstückelt, und wenn sie von edlem Metall waren, eingeschmolzen und hinweggeschleppt: lauter Gräuel, welche eine mildere Religion auf's strengste verboten hätte.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874