Einleitung I: Die ägyptische Mythologie und der Tierdienst derselben

Einleitung

Einleitung I: Die ägyptische Mythologie und der Tierdienst derselben

Einleitung

Die ganz entschiedene Vielgötterei war zuerst in der ägyptischen und indischen Mythologie hervorgebrochen. Als die Hauptgottheit der Aegypter betrachtet Schelling den Osiris-Typhon, ein Doppelwesen, welches sonst gemeinhin als zwei gesonderte Persönlichkeiten vorgestellt und genannt werde, indem man annehme, Osiris sei der wohlwollende, der gute, der freundliche Gott, dem namentlich alle diejenigen Wohlthaten zugeschrieben würden, welche die Hellenen ihrem Dionysos zugeschrieben hätten; Typhon dagegen, eine der ägyptischen Mythologie eigene Gestalt, sei das alles austrocknende, verzehrende, feuerähnliche Prinzip, also die alles im Wüsten und Leeren erhaltende Macht, die dem freien, gesonderten Leben abholde Figur. Unter der Herrschaft des Typhon stehe die Wüste mit dem aus ihr hervordringenden, alles versengenden Gluthwind; seine andere Behausung sei das ebenso wüste als öde Meer; das bepflanzte, durch Ackerbau verschönerte Aegypten zwischen der Sandwüste und dem Meer sei ein dem Typhon abgewonnenes Land.

Das ihm geweihte Thier sei der wilde (oder vielleicht der stöckische) Esel, der auch im Alten Testamente vorzugsweise das Thier der Wüste sei, so dass sein Name zum Namen des Wilds überhaupt geworden. Die Vielgötterei habe stattgefunden durch eine Zerreissung oder Zerstücklung des Osiris, des guten Gottes; aus Angst vor dem Typhon und gleichsam um sich zu verbergen, hätten die Götter sich in die Leiber der Ibisse, der Hunde, der Habichte und anderer Thiere verwandelt. Bekannt ist, dass die ägyptischen Götter von ganz thierischer oder doch blos halbmenschlicher Gestalt waren.

An der Seite des Osiris und des Typhon trete die Isis auf, die nach der einen Erzählung für die Gemahlin des Erstem gilt; sie beweine den von Typhon zerrissenen Gemahl und suche seine Glieder wieder zusammen. Nach einer andern Erzählung dagegen sei Isis die Schwester des Osiris und die Gattin des Typhon; aber Osiris habe mit ihr geheime Liebe gepflogen, und erst desshalb sei die Zerreissung desselben durch den erzürnten Typhon erfolgt. Das Ende der Sage behaupte dann, dass Typhon zuletzt durch Horos, den ächten Sohn des Osiris und der Isis, besiegt worden und lebendig in die Hände desselben gefallen sei, und darauf sei es Isis gewesen, die ihn wieder befreit und seiner Fesseln entledigt habe. Mit Recht bemerkt Schelling, dass die Fabel Widersprüche in sich schliesse; woraus hervorgehe, dass die Aegypter selbst über ihre Vorstellungen von Osiris und Typhon vollkommen unklar gewesen wären. Die von ihm versuchte Lösung bequemt er seinem Systeme an.

Nach seiner Zerreissung wird Osiris Herrscher der Unterwelt, und als der schon genannte Sohn Horos erwachsen ist und den Typhon bezwungen hat, folgt ihm auch Isis in das Reich der Todten nach, und Horos tritt an die Stelle des Osiris, welcher als der Herr alles Werdens erscheint. Dem Horos zur Seite steht wiederum dessen Schwester Bubastis, die sich zu diesem ebenso verhält, wie Isis sich zu Osiris verhält. Uebrigens sei Horos die höhere Einheit, das, worin Typhon wie Osiris im höheren Sinne ausgeglichen sind. Doch wir müssen von Schellings Erörterung absehen, zumal ein kurzer Abriss derselben unverständlich ausfallen würde; ebenso wollen wir von der ägyptischen Theogonie oder Erzeugung der Vielgötterei nichts mehr anfügen, sondern uns hier mit der Nennung der einzelnen Namen begnügen. Ausser den schon Erwähnten finden wir den Gott Thot (Thoyt oder Thauth), den ägyptischen Hermes, die Göttin Athor, von den Griechen die ägyptische Aphrodite genannt, endlich die Göttin Neith zu Sais, welche die Griechen mit ihrer Athene vergleichen. Somit hätten wir jene Achtzahl, die Herodotos für die erste älteste Götterordnung der Aegypter aufgestellt hat, gewonnen. Eine zweite Götterordnung soll nach diesem Historiker aus einer Zwölfzahl bestehen, zu welcher namentlich ein Herakles gezählt werde, Osiris aber nicht, und darum auch nicht, wie Schelling bemerkt, die mit Osiris entschieden gleichzeitigen Götter. Wir übergehen das Nähere, ebenso die Betrachtung einer dritten, jüngsten Götterordnung, von welcher Herodotos redet, unter sie einen Dionysos zählend; wir übergehen die weitere Ausführung, sage ich, weil die Deutung der Hieroglyphen, jener heiligen Schriftart, aus welcher eine bestimmte Angabe zu erwarten wäre, auch heutzutag noch keine ganz sichere ist. Die Hieroglyphen waren die Schrift der Priester, die überdies, ähnlich den indischen Priestern, alle Wissenschaft in ihrem Verschluss hielten, so dass es fraglich ist, ob ein Grieche die Geheimschrift lesen durfte. Es bleiben noch mehrere Gestalten unberührt, deren wir sonst gedenken müssten, wie der Göttin Nephtys, welche zur Gemahlin des Typhon gemacht wird und diesem entsprechen soll, ferner des Gottes Anubis und eines sehr alten Gottes Pan, welchem eine ungemeine Macht beigemessen wurde.

Nur zweierlei möchten wir diesen Berichten, die, wie man sieht, noch sehr dunkel sind, anfügen. Vor Osiris soll ein Urgott verehrt worden sein, genannt Amun. Was hat man unter diesem Götterwesen verstanden? Wie Schelling die Sache fasst, war Amun der erste höchste Gott, ehe man die übrigen höchsten Götter erkannt hatte; nach seinem philosophischen Systeme war er der Gott in der ursprünglichen Verborgenheit, der unsichtbare und verborgene, wie sein Name besage, ein Gott jedoch, der sich offenbaren und aus sich selbst herausgehen könne, und den desshalb die Aegypter aufgerufen und ermahnt hätten sichtbar zu werden und sich ihnen zu offenbaren. Kurz, er sei der Gott vor der Weltschöpfung. Die Griechen hätten ihn Ammon ausgesprochen und den Namen Zeus hinzugefügt, so dass sie ihn Zeus Ammon (die Römer Jupiter Ammon) nannten; wie denn die Griechen gewohnt waren, jeden fremden höchsten Gott mit dem Namen ihres Zeus zu schmücken. Amuns Sitz war die hundertthorige Stadt Theben, die Homer als ein Weltwunder beschrieben hat; nach den religiösen Erzählungen der Aegypter soll sie von Osiris gegründet worden sein, worauf sie dergestalt aufblühte, daas sie zuletzt die ganze Breite des Nilthals ausfüllte. Ein riesiger Tempel und ungeheure Monumente, darunter Obelisken aus den gewaltigsten Blöcken, legten ein äusserliches und innerliches Zeichen davon ab, dass man hier in Amun wirklich das höchse Wesen verehrte. Schelling meint dann, dass sich das System der ägyptischen Theologie in einer Trias (Dreiheit) entwickelt habe. Auf Ammon, den Gott der Verborgenheit, sei Phtha gefolgt, der Gott im Moment der Expansion (Entfaltung), welchen schon Herodotos mit dem griechischen Namen Hephästos ausgestattet habe; auf diesen sei der Gott der verwirklichten Einheit hervorgetreten, Kneph genannt (auch Chnubis und Chumis), also ein dritter Gott, der zur ursprünglichen Einheit wiedergekommen und mit Amun gewissermassen identisch sei. Die Griechen hätten diesen Kneph als Agathodämon, den guten Geist, bezeichnet. Durch die so zusammengesetzte Trias will denn Schelling den natürlichen Ursprung höherer ägyptischer Theologie nachweisen, immer bemüht, auch hier zu zeigen, dass sein System der mythologischen Entwicklung sich bewähre. Wir haben gesehen, er setzt einen Gott, der Gott wird seiend, aber nicht so wie er sollte, und wird dann doch in dritter Erscheinung, was er zuerst war, aber nicht gleich sein konnte. Nur zweifeln wir, dass auf diese Weise irgend einmal schon oder bis heute der rechte Gott offenbar geworden sein möge.

Zweitens erübrigt uns noch, auf das schwere Problem des ägyptischen Thierdienstes unsern Blick zu richten. Ein paar Sätze von Schelling werden zur Erklärung dieser Erscheinung dienen, doch führen wir nur Allgemeines an, um nicht wieder auf sein System, dessen wir oben gedacht haben, Rücksicht nehmen zu müssen, auf ein System, welches läugnet, dass irgend ein Gegenstand aus der Natur herausgegriffen und seiner Nützlichkeit oder Schädlichkeit wegen vergöttert worden sei. Denn im Allgemeinen müssen wir entgegnen, dass er den Menschen, der, wie wir jetzt wissen, unter den Thieren aufgewachsen ist, überhaupt zu hoch gestellt hat, besonders in dem Punkte, dass unser Philosoph eine älteste Menschheit statuirt, die von Haus aus an die Einheit eines einzigen, geistigen, unsichtbaren Urgottes geglaubt und unter dieses Gottes geistiger Lenkung gestanden habe, bis die Vielgötterei sich entwickelte, also, nach unserem Dafürhalten, ein entsetzlicher Rückschritt eingetreten wäre. Aehnliches sei den Aegyptern begegnet, die zwar nach allgemeiner Uebereinstimmung der Berichte den Thierkreis am Himmel erfunden hätten, doch könne diess nicht eher geschehen sein, als nachdem in dieses Volkes Bewusstsein der Gedanke an die Vielgötterei schon eingedrungen sei.

Unstreitig, sagt Schelling im Eingange seiner Untersuchung treffend, ist das unsern Begriffen und Gefühlen am meisten Widerstrebende in der ägyptischen Religion die religiöse Pflege, die sie manchen Thieren zu Theil werden Hessen, und die ganz oder doch zum Theil thierische Gestalt mancher Götter. Er sage zum Theil; denn es sei grösstentheils nur der Kopf (der intelligible Theil), der in die thierische Form, z. B. eines Schakal- oder Vogelkopfes, verhüllt ist. Darauf sucht er diese sonst ohne sein System unbegreifliche Erscheinung begreiflich zu machen, nämlich durch die schon früher von uns abgelehnte Behauptung, dass der Aegypter, dem die Thiere nicht waren, was sie uns sind, nicht etwa von einer Beobachtung der Thiere ausgegangen sei, um sie dann zu vergöttern, doch giebt er nun zu, freilich sei dieser Bezug ihrer Nützlichkeit oder Schädlichkeit nicht ausgeschlossen gewesen. Denn z. B. erscheine der Ibis in Aegypten mit dem wachsenden, steigenden Nil zugleich und verzehre dann später die Schlangen und die den Saaten verderblichen Insekten, die die Ueberschwemmungen des Nils zurückgelassen. Diese Umstände aber hätten nicht ausgereicht, um die Verehrung dieses Vogels zu erzeugen, sondern die Aegypter hätten früher das Göttliche z. B. in den Gestirnen gesehen, und dann habe der theogonische Prozess es mit sich gebracht, dass sie das Göttliche jetzt in den Thieren sahen. Also, meint er, jene natur-historischen Umstände hätten nur im Zusammenhange mit der religiösen Stimmung der Aegypter überhaupt eine solche Wirkung geäussert, im Zusammenhange mit ihrer ganzen Ansicht der natürlichen und göttlichen Dinge, einer Ansicht, die ihnen entstanden sei durch innere Nothwendigkeit (also Einfluss des Urgotts), unabhängig von jenen äusseren geschichtlichen Thatsachen. Denn in dem periodischen Steigen und Fallen des Nils selbst hätten die Aegypter nur eine Scene der sich ihnen jährlich wiederholenden Geschichte ihrer Götter, des Typhon und des Osiris, erkannt, und jene besondere Eigenschaften des Ibis wären wohl etwa der Grund gewesen, und könnten zur Erklärung dienen, warum der Aegypter unter den verschiedenen Vögeln seines Landes gerade den Kopf dieses Vogels ausgewählt habe, um den Gott der Wissenschaft, der Intelligenz und also auch der Voraussicht damit zu bezeichnen.

Zur Stütze dieser Erklärung, die wir haltlos finden, fährt Schelling später fort: Die Thierreihe stellt den Uebergang des realen Gottes als solchen dar. Als Gott gestorben, lebt er in den Thieren. Die Thiere sind dem Aegypter die zackenden Glieder des Typhon. Den Menschen sieht der Aegypter für den als Geist, als seiner selbst vollkommen mächtigen, wieder auferstandenen Gott an; was freilich seltsam genug klingt. Wir übergehen Schellings Untersuchung von jenen Thieren, die man in ihren Begräbnissstätten als Mumien völlig ebenso wie menschliche Leichname behandelt vorgefunden habe; so wären in der Nähe des Bubastistempels Mumien angetroffen worden, die zu dem Katzengeschlecht gehörten (Katzen, Löwen, Tiger), und Bubastis habe sich, wie die ägyptische Mythologie erzähle, aus Furcht vor Typhon in eine Katze verwandelt: die Katze sei eine Erscheinung der Bubastis gewesen. Worauf seine philosophische Ansicht von dem Charakter der letztern Göttin folgt, welche das Bewusstsein des bereits überwundenen Typhon sei; und diesem Bewusstsein. das schon während des Kampfes hervortrete, würden eben die reissenden Thiere zugeeignet, so dass es in diese verhüllt gedacht werde: nach seiner Meinung bezeichnend und bedeutend. Denn auch in der Natur, sagt ¦er, gehen die reissenden Thiere, welche wir vorzugsweise die Willensthiere nennen könnten, unmittelbar vor dem Menschen her. Dem letzteren Zusatz wird man heutzutag ebenso wenig beistimmen, als man sich in jenes eigenthümliche Durchbrechen des Bewusstseins finden kann, ein Durchbrechen, auf welches das System dieses Philosophen gebaut ist, zu dem Zwecke, den Prozess des Werdens zu erklären.

Wenden wir uns zu einem andern Thierkultus, der, nach Schellings Dafürhalten, einen für sich abgeschlossenen Kreis bildet, zur Verehrung des heiligen Stieres, des Apis oder, nach der Angabe einiger Autoren, der drei Apis. Wir wollen es bei dem heiligen Stiere in Memphis bewenden lassen, dem einzigen, von welchem Herodotos, der beste Berichterstatter, Kenntniss hat. Man suchte den Stier nach besonderen Kennzeichen aus: er musste ein weissgezeichnetes Dreieck auf der Stirn, einen ebenso gezeichneten Halbmond auf der einen Seite und eine dem heiligen Käfer ähnliche Erhöhung unter der Zunge haben. War ein solches Individuum nach dem Ableben eines früheren Apis glücklich aufgefunden, so pflegte man das Thier (als Mnevis) in einer gegen Morgen offenen Halle zu Heliopolis vier Monate lang; dann erst wurde der neue Apis feierlich in den Tempel des Phtha nach Memphis gebracht. Mit diesem Stierdienst nun hatte es, wie Schelling bemerkt, eine eigene Bewandtniss. Denn erstens wurde hier das Individuum als solches verehrt; zweitens war damit die besondere Idee von einer reinen Empfängniss verbunden (die Kuh, die den Apis warf, sollte von einem Sonnenstrahle befruchtet worden sein), und drittens verband sich damit die Vorstellung von einer Transmigration (Uebersiedelung) der Seele dieses Apis. So oft nämlich ein Apis starb, wanderte die Seele des verstorbenen in einen neuen Apis. Diess scheine nun, meint Schelling, gar nicht ägyptisch, auch mit der sonst angenommenen Seelenwanderungslehre der Aegypter hänge es nicht zusammen (nach dieser gehe die Seele nicht in den Leib eines andern Individuums derselben Art, sondern stets in ein Thier von anderer Art über). Diese letzte Idee habe etwas Fremdes an sich, sie erinnere an die Lamaischen Religionen; denn auch in diesen, wenn ein verkörperter Buddha sterbe, wandere seine Seele in seinen Nachfolger. Wenn also der Apis, wie Plutarch sagt, als ein lebendiges Bild des Osiris betrachtet wurde, oder wenn er ein verkörperter Osiris war, so scheint es unserem Philosophen, dass hier ein Kultus anderer Art nur mit dem ägyptischen in Verbindung gesetzt ist, dass also jener Kultus ursprünglich einer der ägyptischen Religion eigentlich fremden Richtung angehörte, die jedoch nicht völlig besiegt oder beseitigt werden konnte, und daher mit ägyptischen Ideen in Verbindung gesetzt wurde. Besonders merkwürdig sei in dieser Hinsicht die unüberwindliche Anhänglichkeit des israelitischen Volks an die Verehrung des Stiers, obwohl dasselbe diesen Stier (das Kalb, wie es auch Herodotos nennt) blos im Bild verehrt habe, während in Aegypten ein lebendiger verehrt worden. Aber der im Bild verehrte, muthmasst Schelling, sollte wahrscheinlich nur Bild des ächten und lebenden sein. Und nun führt unser Philosoph den Ursprung dieser Verehrung, welche in Aegypten dem Stier selbst gegolten habe, auf die Anfänge des Ackerbaues zurück. Denn er brauche nicht zu sagen, dass es nicht der wilde Stier, sondern der gezähmte, bereits in den Dienst des Menschen getretene und ihm unterworfene Stier sei, den man im Apis gemeint habe; dieser Stier diene als Symbol des Uebergangs vom Nomadenleben zum ackerbauenden Zustande. Sogenannte Hirtenstämme (Hiksos) hätten eine eigene Stadt gegründet, Heliopolis, wo sie den Stier verehrten,, ehe man ihn nach Memphis brachte. Diese Stämme wären also, wie es scheine, nicht mehr reine Nomaden gewesen. Dasselbe gelte wohl auch von den Israeliten,, wenigstens in der letzten Zeit ihres Aufenthalts in Aegypten; selbst nach ihrem Auszuge wären sie noch vierzig Jahre in der Wüste, d. h. im Zustande des Nomadenlebens, erhalten worden, offenbar um vor Idololatrie (Vielgötterei) bewahrt zu werden und den reinen Glauben, sowie die Sitten der Nomaden, die sie in Aegypten verlernt hatten, wieder sich anzugewöhnen. Aber die Israeliten traten ja nicht als Nomaden auf, als sie das gelobte Land erreicht hatten! Also fällt die ganze Vermuthung weg. Es liegt vielmehr in der Gewohnheit ungebildeter Menschen, etwas Sichtbares als Gott zu verehren; gerade wie es heutzutage noch mit der Masse der römisch-katholischen Bekenner ist, die auch nicht ohne Heiligenbilder existiren können. Richtig mag im Uebrigen Schellings Folgerung sein, die dahin geht, dass der Apisdienst durch eine besondere religiöse Richtung in einem Theile Aegyptens mit der Osirislehre in Verbindung gesetzt worden sei, durch eine religiöse Richtung, deren Spur, wie er meint, nicht zu verwischen gewesen. Genug, der heilige Stier sei von Heliopolis nach Memphis gebracht und später für das beseelte Bild des Osiris erklärt worden, des Gottes, welchen man als den Stifter des Ackerbaues verehrt habe.

In der ägyptischen Mythologie ist Schelling geneigt, die erste und älteste der vollständigen Mythologien zu erblicken. Die Letztern indess stünden, trotz ihrer Vollständigkeit, gleichwohl einander dergestalt parallel, dass zwischen denselben noch eine Aufeinanderfolge gedacht werden könne. Ohne Bedenken verwirft er die Meinung, dass die indische Götterlehre das Ursystem aller Mythologien enthalte, das Ursystem, das sich in den andern zersplittert hätte; vielmehr habe er es vorgezogen, unter den vollständigen Götterlehren den ersten Platz der ägyptischen anzuweisen. Die gewichtigen Gründe, die er für die Stellung der Inder und Aegypter in der Weltgeschichte anführt, mögen unsere Leser in seinem geistvollen philosophischen Systeme der mythologischen Betrachtung selbst nachschlagen. Um diese Stellung desto genauer zu bestimmen, müssen wir zugleich die kritischen Untersuchungen befragen, welche später Christian Lassen in seinem gewaltigen Werke der Indischen Alterthumskunde über den Ursprung des indischen Volkes niedergelegt hat. Zuerst versichert dieser grosse Geschichtsschreiber: Die Inder glauben sich, wie die meisten Völker der alten Welt, Autochthonen; ihre heilige Sage versetzt die Schöpfung der Urväter und ihre Thaten nach Indien selbst, und es findet sich bei ihnen keine Erinnerung eines Ursprungs aus einem Nichtindischen Lande, eines früheren Wohnens ausserhalb ihres Bhäratavarsha's, nämlich des eigentlichen Indien. Denn letzteres hat von der Brahmanischen Kosmographie obigen Namen erhalten, einen Namen, welcher das im Süden des Himalaja gelegene Land, also das heutige Indien in seiner ganzen Ausdehnung mit seinen wirklichen Bergen, Flüssen and Völkern bezeichnet. Alsdann aber widerlegt Lassen diesen Traum der Inder von ihrer Erdgeburt, indem er unter mehrfachen Erwägungen sich für die Ansicht ¦entscheidet, dass die Inder einst aus anderen Ursitzen nach Indien eingewandert sind, von irgend einem Mittelpunkte, welcher die Verbreitung der Völker aus gemeinschaftlichen Ursitzen nach verschiedenen Weltgegenden wahrscheinlich mache. Die Inder waren nur ein Glied der ganzen Kette, und zwar das äusserste, als die sicherlich in Pausen sich vollziehende Trennung eines zahlreichen Volkes stattfand.

Dabei dürfen wir freilich nach der Darwinschen Forschung mit Recht vermuthen, dass die Einwanderer auch in Indien schon eine Menschenklasse vorfanden, die sich aus dem Thierzustande herausgearbeitet hatte. Der hochgesegnete Erdstrich, später Indien genannt, konnte doch nicht ohne die Wirkung der Urzellen geblieben sein, also menschenleer und öde angetroffen werden, als neue Geschlechter im Kampf um das Dasein einrückten.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

Die Trilogien der Götter < > Die indische Götterlehre