Genius

Genius

Römische Mythologie

Der Glaube an unsichtbare Schutzgeister, an Wesen, welche für Wohl und Wehe der einzelnen Menschen sorgen, findet sich bei sehr vielen Völkern; doch nirgends war die Lehre von den Genien so vollkommen ausgebildet und zum Cultus erhoben, wie in Rom; dort glaubte man bestimmt an Götter, welche jedem Menschen von dem Augenblicke seiner Geburt an beigegeben seien; man verehrte diese Götter theils an allgemeinen Festtagen, theils Jeder für sich an seinem Geburtstage; jeder Hausvater stellte das Bild seines Genius in dem Lararium neben dem Lar seines Hauses auf, brachte ihm Trank-, Speiseund Rauchopfer, und hielt das, was er als Willens-Aeusserung des Genius glaubte betrachten zu dürfen, für besonders wichtig und einflussreich auf sein Leben, mehr, als alles Wohloder Uebelwollen der anderen Götter, indem diese nur das grosse Ganze, die Genien aber das Einzelne im Auge hätten. Dem Genius etwas einräumen, hiess bei den Römern so viel als sich gütlich thun; den Genius verkürzen, sich ein Vergnügen am Munde abdarben. Man sieht also, dass der Genius vorzugsweise in dem Sinne Schutzgeist des Menschen ist, dass er jede dem Menschen zu Theil werdende Freude wie seine eigene hinnimmt und geniesst. Uebrigens dehnte sich der Glaube an Genien allmälig auch viel weiter, als bloss auf diese Ueberwachung und Leitung des Individuums aus; jede bedeutendere Thätigkeit und Lebensbestimmung bekam ihren Genius oder ihre Genien; daher sehen wir auf unseren Abbildungen Genien des Ackerbaues nach einem Sarcophag-Basrelief; Genien der Jagd nach einem Basrelief; sodann ebenfalls nach einem Basrelief von der Basis der zerstörten Ehrensäule des Antoninus Pius zu Rom den Genius der Welt oder der Ewigkeit, auf seinen Flügeln Antoninus Pius und seine Gemahlin Faustina emportragend. Unten rechts sitzt die Göttin Roma, links der Genius des Marsfelds, wo man die Scheiterhaufen der Kaiser und Kaiserinnen zu errichten pflegte. Besonders gern dachte man sich den Genius in Schlangengestalt, daher wir
Genius 125Fig. 125 sogar einen Genius des Theaters in dieser Gestalt sehen.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874