Einleitung I: Wichtigkeit der vergleichenden Mythologie und die Aufgabe derselben

Einleitung

Einleitung I: Wichtigkeit der vergleichenden Mythologie und die Aufgabe derselben

Einleitung

Wir schliessen diese flüchtige Berührung der griechischen Mythologie mit der Bemerkung ab, dass die Römer in der Hauptsache durch und durch, ohne wesentliche Veränderungen, die Religion der Hellenen zu der ihrigen machten. Selbstschöpferisch war die Phantasie des eigentlichen Römervolkes niemals. Wenn die Begründer Roms als Kolonisten von Griechenland herkamen und einen einheimischen Urgott, wie den Janus, ihren mitgebrachten Göttern zugesellten, so thaten sie im Grunde nur das Nämliche, was einst ihre griechischen Stammväter gethan hatten, welche einerseits die bei ihrer Einwanderung vorgefundenen Umrisse altpelasgischer Gottheiten nicht schlechthin von der Hand wiesen, andererseits mancherlei ägyptische Typen bei der allmäligen Gestaltung ihres Göttersystems verwendeten, das gleichwohl eigenthümlich genug ausgefallen ist. Zu entscheiden aber oder auch nur mit irgend einer Sicherheit anzugeben, was und wie viel die Griechen, nach ihrer Niederlassung am Mittelmeer, von dem benachbarten Kleinasien oder Aegypten auf religiösem Gebiete sich angeeignet haben, um das Fremde gleichsam in das Griechische zu übersetzen, das wird augenscheinlich nicht eher möglich sein, als bis das Buch der Mythologie ein weltumfassendes geworden ist durch die Sammlung und Vergleichung aller Sagen, von den frühsten Ueberlieferungen bis zu den spätesten; nur dadurch würde es dem Forscher gelingen, seinen Blick mit Klarheit auch auf die letzte Götterlehre, die griechische, zu richten.

Die Betrachtung, auf blosse Bruchstücke beschränkt, wie sie seither war, schliesst einen Ueberblick des Ganzen aus, und ein solcher ist vonnöthen, wenn wir die gesammte religiöse Bewegung des Menschengeschlechts mit gutem Erfolge erklären wollen bezüglich ihrer Anfänge, ihrer successiven Weiterverbreitung, ihrer Nachahmung, Umbildung, Verwandtschaft. Das Gespinnst dieses Ungeheuern Gedankennetzes zu zerlegen und zu ergründen, ist die Aufgabe der vergleichenden Mythologie, einer Wissenschaft, welche die Schöpfung deutschen Geistes ist, indem sie ihre Grundlage vornehmlich durch Adalbert Kuhn erlangt hat. Christian Lassen, der das hohe Verdienst dieses Gelehrten anerkennt, bemerkt ausserdem, dass diese Wissenschaft erst seit der Bekanntschaft mit dem Rigveda, dem ältesten literarischen Denkmale der Indokelten, möglich geworden sei; durch dieses inhaltreiche Werk nämlich wären wir in den Stand gesetzt worden, in mehreren Fällen die Götter der stammverwandten Völker und die Mythen von ihnen auf ihre ursprüngliche Bedeutung zurückzuführen. Darauf zieht Lassen ein vorläufiges Ergebniss, dessen wir, seiner Wichtigkeit wegen, wörtlich gedenken wollen. Die mehr oder weniger diesen Völkern gemeinschaftlichen Gottheiten sind mit ihren indischen Namen die folgenden: Indra oder Djupati oder Divaspati, Sarameja, Parganja, Saranjü, Varuna, Sürja oder Savitar, Ushas, Idä oder Ilä, Gandharva und Ribhu. Mitra und Soma wurden nur von den Indern und den Iraniern verehrt, dagegen lässt sich die Vorstellung von einem Stammvater, Namens Manu, bei vielen Indogermanen nachweisen. Von den übrigen Uebereinstimmungen mögen hier nur zwei hervorgehoben werden, weil sie zu den am weitesten verbreiteten gehören. Die erste ist der Mythos von der Herabkunft des Feuers und des Göttertranks. Bei den verschiedenen Völkern treten dabei andere Personen auf; auch sind die Vögel verschieden, welche das Feuer vom Himmel herab bringen. Da es zu weit führen würde, wenn ich dieses im Einzelnen nachweisen wollte, will ich mich auf die Bemerkung beschränken, dass der Name Prometheus aus dem Sanskritworte pramätha, an sich reissen, zu erklären ist; die Deutung dieses Namens durch voraussehend ist auf griechischem Boden entstanden. Die zweite Sage ist die des Kampfes des Gottes der Lufterscheinungen mit den bösen Geistern, welche die Kühe, d. h. die Wolken gefangen halten. Bei den Griechen erscheint Apollon in dieser Eigenschaft, wenn er die entführten Kühe aufsucht. Weiter ist der griechische Mythos von Herakles und Geryones und der römische von Herkules und Cacus auf Indras Kampf mit Vritra zurückzuführen; den letzten nennen die Griechen Orthros und dachten sich ihn als zweiköpfig. Der Glaube des deutschen Volks an den wilden Jäger und das wüthende Heer ist eine Entstellung der Vorstellung, dass Wodan auf einem weissen Rosse reitend und von Hunden begleitet durch die Luft stürmt, um die bösen Geister zu bekämpfen. Hiermit stimmt überein, dass Indra von dem Götterhunde Sarameja begleitet wird und auf dem weissen Rosse Ukkaihcravas reitet; mit diesem Rosse lässt sich das Blitz und Donnerross Pegasos des Zeus vergleichen. In der deutschen Heldensage tritt endlich Siegfried an die Stelle des Siegmund, welches ein Beiname des Odin ist und welchem die Tödtung eines Drachen zugeschrieben wird, wie dem Indra die der Schlange Ahi.

So weit Lassen. Die zuletzt von ihm erwähnte Siegfriedsage, im nordischgermanischen Alterthum die berühmteste und weitverzweigteste, die häufig sogar auf verworrene Weise, plump und widerspruchsvoll ausgesponnen worden ist, hat bekanntlich im Nibelungenliede ihren besten AbschlusB gefunden. Den Gang derselben sehen wir durch eine fleissige Schrift von Karl Steiger, die so eben erschienen ist, sorgfältig erörtert; der talentvolle junge Gelehrte führt den Ursprung der Sage von Siegmund oder Siegfried, anscheinend ohne die obige Stelle Lassens zu kennen, auf den Mythus von dem obgedachten Sonnengotte Freyr unter beachtungswerthen Gründen zurück.

Der Bedeutsamkeit der vergleichenden Mythologie entzieht sich auch Schelling nicht. Wir dürfen geradezu sagen, dass seine Philosophie der Mythologie im Grunde nichts anderes ist als eine Vergleichung der vornehmsten Richtungen, welche im gesammten mythologischen Prozesse hervorgetreten sind. Die Grundlage seines Systems war freilich, wie wir uns oben nicht verhehlen konnten, eine willkürliche und desshalb verfehlte; das von ihm gegebene Beispiel aber wird fortwirken und neue Versuche zur Aufhellung der Art und Weise, wie die Menschheit in ihrem Kindesalter sich geistig entwickelt hat, hervorrufen. Denn der vergleichenden Mythologie steht ein endloses Feld offen.

Erstens liegt dem Forscher ob, die Hauptzüge zu untersuchen, welche nicht blos den Indokelten gemeinschaftlich sind, sondern auch bei den Bewohnern fast aller Himmelsstriche sich wiederfinden, namentlich die Vorstellung des Göttlichen oder eines göttlichen Urweseng, mit welchem die Existenz des Weltalls verknüpft sei. Zweitens sind jene Hauptzüge in das Auge zu fassen, die bei einer Reihe von Völkern, meist nachgeahmt oder umgebildet, wiederkehren: die Vorstellung eines guten und bösen Prinzips, eines Götterwohnorts, eines Paradieses, eines unsterblichen Fortlebens nach dem Tode, eines Elysiums und Straforts, eines Untergangs der Welt oder der Schöpfung. Drittens kommt es darauf an, diejenigen Göttergestalten aus den Vielgöttersystemen herauszunehmen, die unter sich verwandt zu sein scheinen, den Charakter, die Wirksamkeit und die Züge, die von ihnen berichtet werden, nach ihrer Besonderheit oder Aehnlichkeit zu erwägen und vor allem die bekanntesten Götterwesen zu beleuchten, die man in der Vorstellung der meisten Völker antrifft: den Liebesgott, die Liebesgöttin, den Gott des Himmels, den Sonnengott, den Donnergott, den Schlachtengott, den Siegesgott, gewisse gute und böse Dämonen. Viertens müssen die Heldensagen in ihren Ursprüngen, Uebertragungen und Veränderungen ermittelt werden, soweit sie irgend einen Zusammenhang mit einander zu haben scheinen. Denn Recken von gutem und schlechtem Charakter, Riesen und Kämpfer von ungewöhnlicher Stärke, gewaltige Wunderthiere der verschiedensten Gattung und Art, die uns als Phantome erscheinen, gehen durch die Mythologien des Orients und Occidents. Wir hatten keinen Raum, jener Figuren im Obigen besonders zu gedenken; aber die vergleichende Mythologie wird nicht umhin können, auf diese Erscheinungen eine entschiedene Rücksicht zu nehmen. Es will uns bedünken, dass viele mächtige Wesen, die wir für Geburten der Fabel anzusehen pflegen, einen realen Hintergrund haben dürften; wir vermuthen nämlich, dass den fernen und späten Nachkommen der Menschengeschlechter eine dunkle Zurückerinnerung an so mancherlei ausserordentliche Gestalten geblieben ist, welche von Auge zu Auge in urgrauen Epochen ihre Vorfahren begleitet und umgeben haben. Berichte der letztern von ihren ehemaligen Gefahren, Kämpfen und Thaten pflanzten sich ohnstreitig von Geschlecht zu Geschlecht und von Land zu Land durch unendliche Zeiträume fort. Wenn erwiesenermassen jene Riesenthiere existirt haben, Mammuth, Mastodon, Plesiosaurus, Megalosaurus, Iguanodon und vielerlei andere Arten, wovon Elephant, Krokodil, Wallfisch und afrikanische Waldschlangen die letzten Beispiele sind: warum sollte es thöricht sein, an die urzeitliche Existenz eines Greif, eines Vogel Rock, eines Einhorn zu glauben? Die heutige Naturforschung nimmt die seither bestandenen Zweifel augenscheinlich weg; die Sphinx war ehedem ein Räthsel, jetzt ist sie lebendig geworden! Wir dürfen zugleich auf diesem Standpunkte schliessen, dass es vormals auch Männer und Frauen von gigantenhaftem Leibe gegeben hat, die befähigt waren, den Streit mit jenen zeitgenössischen Ungeheuern siegreich aufzunehmen und im Kampfe um das Dasein sich und ihre Kinder zu beschützen. Was also weiter? Aus solcher uralter Kunde hatte sich die fortlaufende Vorstellung von Riesen mit sowohl gutem als bösem Charakter entwickelt; denn unter diesen mächtigen Individuen wird es neben den edleren schwerlich an rohen Unholden gemangelt haben, die selbst ihres Gleichen nicht schonten, da sie an Wildheit den thierischen Ungeheuern in keiner Weise nachstanden, sobald sie die schwächeren Mitmenschen verschlingen konnten. Erkannten sich doch damals die Menschen unstreitig noch nicht für ein Geschlecht an, das eine eigene und mehr als thierische Berechtigung habe. Ja, wir gehen nur einen Schritt weiter, wenn wir den alten Mythus von Wassernymphen, Nereiden, Tritonen, Flussgöttern aus der Wirklichkeit geschöpft wähnen, indem wir vermuthen, dass es in der frühesten Urzeit menschliche Organismen gegeben hat, die amphibisch gebildet waren, also sowohl im Wasser als auf dem Lande zu leben vermochten; späterhin konnten sich ja die Organe der Menschen allmälig anders, in Folge anderer Lebensweise, ausbilden. Die Naturwissenschaft, wenn sie ihre jetzt aufgestellte Entwicklungstheorie festhält, möchte diese Annahme wohl kaum zurückweisen. Ebenso wagen wir mit nichten zu viel, wenn wir in der Sage von den Dryaden, den Nymphen der Bäume und Wälder, eine Erinnerung an die Wirklichkeit sehen: einst, wie nicht zu zweifeln steht, haben sich die von thierischen Mitgeschöpfen gefährdeten Menschen auf die hohen Stämme der Bäume und unter die Decke laubiger Aeste zurückgezogen, wo sie ihre Wohnstatt, gleich den Affen, entfernt von dem platten Boden aufschlugen. So mochten vorzugsweise die schwächeren Frauen sich und ihre junge Familie vor den Krallen feindlicher Geschöpfe sichern wollen: die Bäume und Wälder deuchten noch lange nachher belebt. Ferner, das einst geglaubte Vorhandensein von Riesen in Höhlen und Bergklüften bietet seine Erklärung aus einer ähnlichen Erinnerung dar; denn die Urmenschen wählten häufig auch, was ganz natürlich war, ihr Lager in dergleichen festen und geschützten Schlupfwinkeln, wie die Schlangen und andere wilde Thiere, um vor Angriffen besser geschützt zu sein. Es war leicht, in den Bewohnern solcher Verstecke eine Sorte Berggeister zu erblicken, die eine wunderbare Kraft und Gestaltung hatten. Endlich fühlen wir uns versucht, auch in den Seilenen und Bocksfüsslern keine blosse Schöpfung einer überspannten Einbildungskraft zu wittern, sondern sind der Meinung, dass ihre Gestalten in das urzeitliche Hirtenleben wilder Gemeinschaften zurückreichen, in der Kulturzeit aber nicht ganz vergessen waren, sondern unter einer phantastischen Ausschmückung ihr Andenken forterhielten. Namentlich die geschlechtliche Sinnenlust, die man ihnen als einen nicht vorteilhaften Charakterzug nachsagte, weist auf eine Epoche hin, wo noch an keine ehliche Ordnung gedacht wurde, sondern die Willkür des Stärkern über das schwächere Geschlecht leidenschaftlich herfiel; lange mochte dies dauern und nicht einmal in besseren Zuständen aufhören. Das menschliche Zusammenleben erhob sich anfänglieh kaum über die Vergesellschaftung der Thiere im rohen Naturzustände.

Die Phantasie der Menschen indessen war und ist unerschöpflich. Daher möchten wir nicht behaupten, dass nicht zu den eben erwähnten wirklichen Erscheinungen viel hinzugefabelt worden sei. Ausserdem wollen wir gerne zugestehen, dass man ohne eine weitere thatsächliche Veranlassung auch dahin geschritten ist, die Welt mit einer Art von wunderbaren Geschöpfen zu bevölkern, welche an Gestalt den Riesen und Giganten, ja, ihrem eigenen Körpermasse schnurstracks entgegengesetzt waren, nämlich mit Zwergen, Gnomen, Elfen, Blumengeistern und wie sie sonst in den verschiedenen Mythologien heissen. Der Gegensatz gegen jene hat sie wahrscheinlich hervorgerufen, wie man auch Feen, gute und böse Geister sich schuf und gesehen haben wollte; sonst wäre wohl ihre Erfindung nicht erklärbar. Auch bis in die neuere Zeit und selbst bis in die Gegenwart fährt die Phantasie fort, dergleichen Träumereien theils zu erzeugen, theils festzuhalten und weiter zu tragen. Wir kommen hier auf den allgemeinen Volksglauben zu sprechen. Der stille Gedanke an Zauberei und übernatürliche Wirkungen dauert bekanntlich noch immer fort. Der europäische Matrose achtet auf sogenannte KatharinenHühnchen, die einem Schiffe nachfolgen; wie er glaubt, deuten sie an, dass ein Mörder an Bord sei, oder dass ein Mord im Schiffe stattfinden werde. Ebenso wenig sind in Deutschland die Sagen von den Hexen des Harzes und von dem Rübezahl des Riesengebürgs, von Elfen und Elfenköniginnen, Nixen, Kobolden der Berge, Heinzelmännchen und andern wunderthätigen guten und bösen Wesen aus dem Gedächtniss der Menge verschwunden. Die Erinnerungen an die traumhaften Vorstellungen der alten germanischnordischen Völker tauchen unverlöschbar bis in unsere Tage hinein. Sc> phantasirt der Dichter, dass es Sommernächte giebt, wie sie einst über altschwedische Seen sich gelegt haben sollen, von Göttergestalten heimlich belebt und durchwallt, von wunderbarem Dämmerlichte erhellt. Monddurchglänzte Nebelfahnen treiben dann, weiss und licht, in einzelne Streifen zerreissend, gleich einem Elfenschwarm der Edda, über einen See hin und umschweben den Kahn des Schiffers im sanften Spiele der Wellen. Die Sagen von Wasserfrauen und Nixen, noch heutzutag gäng und gäbe, knüpfen sich wahrscheinlich mehr an die Ueberlieferung von antiken Nymphen und an den Glauben von der Allbelebtheit der materiellen Natur an; ein Glaube, der oben geschildert worden ist.

Die wilden Völker sind von dergleichen Vorstellungen nicht frei. Die Hottentotten hängen an uralten Täuschungen. Schlaue Gesellen aus ihrer Mitte rühmen sich, mit Zauberkräften begabt zu sein, theils wissentliche, theils selbstüberzeugte Betrüger, die eine oberflächliche Kenntniss von Natur und Arznei zu ihrem persönlichen Vortheile verwenden. Man erwähnt von ihnen, sie hätten die Macht, Blitz, Donner, Regen, Sturm sowohl hervorzurufen als abzuhalten. Glückt die Beschwörung zufällig, desto besser; schlägt sie fehl, so hat man Entschuldigungen bei der Hand und fängt die Sache gelegentlich von vorn an. Sie verfahren, mit Einem Worte, in derselben Weise wie so viele Pfaffen in Europa seit dem Mittelalter zu verfahren pflegen, die sich auf Wundergesichte, Erscheinungen der heiligen Jungfrau, Orakel und Prophezeiungen stützen, um den grossen Haufen für ihre menschenfeindlichen Zwecke zu beherrschen.

Die durchgreifendste Rolle behauptet noch überall das böse Prinzip, der Teufel. Nur ein einziges Beispiel davon. Die Wotjaken, die ein Theil des grossen finnischen Volksstammes sind, behalten ihre Gebräuche wie ihre Trachten seit undenklicher Zeit unverändert bei, ebenso ihren krassen Aberglauben, der einen unsäglichen Einfluss auf alle ihre Handlungen übt. Dass sie an gute und böse Tage glauben, haben sie freilich mit der Mehrzahl der Bewohner des europäischen Westens und Südens gemein; desgleichen ist es nichts Besonderes, dass sie das Schreien eines Vogels im Walde auf Glück oder Unglück deuten. Aber die Furcht vor dem Schaitan (Teufel) geht bei ihnen über Alles. Ein Wetterstrahl, der einen Baum zerschmettert, tödtet nach ihrer Meinung einen darin wohnenden Teufel. Ein Pferdedieb fällt dem Teufel anheim; der letztere kocht die Seele eines solchen, wenn er gestorben ist, in einem Pechkessel. Gleichwohl, da sie ausserordentliche Liebhaber von schönen Pferden sind, stehlen sie Pferde, wo sie können, in der Hoffnung, nicht entdeckt zu werden.

Doch kehren wir zur vergleichenden Mythologie zurück. Fünftens nämlich, wenn Orient und Occident des heidnischen Alterthums so gründlich als möglich überschaut, und die vielgestaltigen Sagen der neuen Welt, sowie der oceanischen Inseln ebenfalls' zu einer umfassenden Würdigung gelangt sind, da wird der Zeitpunkt erscheinen, wo diese Wissenschaft die höchste und letzte Aufgabe zu erfüllen hat. Wir irren schwerlich, wenn wir sagen: der Forscher, ausgerüstet gleichsam mit den aus den verschiedensten Zeitaltern herbeigeholten Waffen, wird nicht blos die Neigung, sondern nach unserem Dafürhalten auch die Notwendigkeit fühlen, das Christenthum oder die geoffenbarte Religion gleichfalls dem Probierstein einer eingehenden Kritik zu unterwerfen. Er wird unnachsichtlich zu untersuchen haben, ob die christliche Lehre eine selbstständige ist, eine neue ausserordentliche Lehre, womit die Menschen beschenkt worden sind. Kein Bedenken darf ihn abhalten, eine genaue Prüfung anzustellen, ob der Inhalt des Christenthums nicht theilweise eine Frucht des Heidenthums ist, oder mit andern Worten, ob die Lehre vom alleinigen Gott, der an die Stelle der Vielgötterei getreten ist, ausserhalb der Mythologie steht oder nicht. Denn es sind mancherlei Merkmale vorhanden, die uns auf die Meinung bringen könnten, der mythologische Prozess schliesse keineswegs, wie Schelling ausgesprochen hat, mit der altgriechischen Lehre ab, sondern, um uns kurz auszudrücken, das Christenthum habe einen solchen Zusammenhang mit der Vorwelt, dass dasselbe nicht mehr bedeute als eine neue Mythologie! Allerdings eine erschreckende Meinung, wenn wir vor Augen sehen, dass die gesammte Kultur der gegenwärtigen Menschheit, die Kultur in ihrer für jetzt höchsten Blüthe, auf der christlichen Lehre ruht. Etwas Besseres als die letztere kennen wir nicht; die Fortschritte sind staunenswerth, welche sie seit fast zwei Jahrtausenden auf Erden bewirkt hat. Friede, Freiheit, Beseligung ziehen mit ihr in die Herzen derjenigen Menschen ein, die, wahrhaft durch sie geleitet, nach ihr handeln und wandeln. Der reinste Humanismus ist ihre Folge, das wahre Menschenthum ihr Ziel.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

Die griechisch römische Religionslehre < > Die Ausartung des Christenthums