Einleitung I: Die deutsch nordische Götterlehre

Einleitung

Einleitung I: Die deutsch nordische Götterlehre

Einleitung

In mehreren Grundzügen hatte sie mit der deutschnordischen (nordischgermanischen) eine grosse Aehnlichkeit, im gewaltigen Wettkampfe eines guten und bösen Prinzips, im scheinbaren Siege des letztern, in der Vergänglichkeit der Götter, im Untergange der Erde durch Feuer und im schliesslichen Wiedererstehen einer vollkommenen Welt. Wir führen blos die Hauptgötter dieses im Norden Europa's verbreiteten Sagenkreises auf. In diesem giebt es ebenfalls einen Urgott, der über der Erde, den Göttern und dem Weltall steht, den Allvater (Alfadur). Mit diesem Namen freilich wird auch Odin beschenkt, der oberste Gott und zugleich unter den Göttern der erste, der da war und bis an das Ende fortherrschte; sonst auch Wodan (Wuotan) genannt. Seine Gemahlin hiess Frigg, die Tochter eines Joten (Riesen), und aus ihrer Ehe entsprossten sechs Söhne, die unter die vorzüglichsten Götter gerechnet wurden, Thorr, Tyr, Hermodr, Bragi, Baidur und Hödur. Die Zahl dieser acht Götter erhöhte sich auf zwölf; denn es traten hinzu: Heimdal, ein Sohn des Odin aus einer andern Ehe, und drei Götter, die einem besonderen Geschlecht angehörten, der Meergott Oegir, und das Geschwisterpaar Freyr (der Sonnengott) und Freyja (die Göttin der Liebe und des Frühlings), beide herübergenommen aus einem Stamme, der ehedem ein feindlicher war, nämlich aus dem heute noch nicht näher bekannten Stamme der Wanen. Sie selbst nannten sich in "ihrer nunmehrigen Zwölfzahl Äsen, von Asahehn, einem Lande, das im Osten liegen sollte. Doch blieb es nicht bei diesen Mitgliedern des unter den nordischen Völkern Europa's geträumten Götterreiches, neue kamen hinzu und eine zahllose Menge Persönlichkeiten untergeordneten Rangs, namentlich weibliche, vermehrten die Summe unsterblicher Wesen. Odin beherrschte vorzugsweise die männliche, Frigg die weibbliche Götterschaft. Das irdische Leben wurde im himmlischen Reiche gleichsam unter Verschönerung fortgesetzt.

Den guten weltregierenden Gottheiten aber standen böse, feindliche und grässliche gegenüber, die sich zum Sturze des Asenchores verbanden und mit gemeinschaftlichen Kräften den Untergang der Welt vorbereiteten und endlich herbeiführten. Sie stammten sammt und sonders aus furchtbaren Riesengeschlechtern; die vornehmsten waren Loki mit seiner entsetzlichen Sippschaft und Surtur, jener der Gott des Feuers, dieser der König von Muspelheim, einer Feuerwelt. Ausserdem nahm Hei, eine scheussliche Tochter des Loki, einen ausgezeichneten Rang ein; denn sie war die Königin des Todtenreichs, einer besonderen Welt in der Tiefe des Alls, wie denn auch das Reich des persischen Ahriman in der dem Himmel entgegengesetzten Richtung unterhalb der Erde lag. Das Reich dieser schrecklichen Göttin hiess Helheim.

Wir haben hier schon die Namen zweier Weltgebiete berührt, des muspelheimischen und helheimischen. Das All nämlich, wie es sich die Völkerschaften des europäischen Nordens vorstellten, hatte mehrere Abtheilungen; diese wurden in ähnlicher Weise, wie man die Personen der Götter vermehrte, durch die Phantasie einzelner Köpfe fortgebildet und auf die Zahl von neun Gebieten oder Reichen gebracht, deren jedes seine bestimmten Gränzen, Naturverhältnisse und Bewohner angewiesen erhielt.

Am höchsten Himmel befand sich Asgard, der heimische Sitz der Äsen, der Olymp des Nordens, ein Reich mit herrlichen Pallästen und schönen ebenen Fluren; in gerader Linie unmittelbar unter Asgard lag LichtAlfheim, eine von den guten Alfar oder von den lichten Elfen bewohnte Welt; der letztern schloss sich unterhalb wieder Midgard (der Mittelgarten) an, so geheissen, weil diese Welt den Mittelpunkt des Alls ausmachte: sie war der Wohnsitz der Menschen, also die Erde mit ihren Thälern, Gebürgen, Meeren und Flüssen. Nach unten wiederum, in gleicher Richtung mit Erde, LichtAlfheim und Asgard gelegen, dachte man sich SchwärzAlfheim, das lichtlose Reich der schwarzen oder bösen Elfen. Diesem endlich folgte in der äussersten Tiefe des Alls, den entgegengesetzten Pol vom obersten Asgard bildend, das finstere kalte Reich des Todes, der Nacht und des Elends, Helheim, ein Gebiet, welches, wie gesagt, von der obenerwähnten Hei beherrscht und benannt wurde, und das alle Menschen in sich aufnahm, die nicht durch ehrenvollen Schlachtentod, durch Fallen im Streit und Krieg, den Vorzug genossen, nach dem himmlischen Asgard versetzt zu werden. Die an Krankheit Gestorbenen lebten unten fort, kläglich und jammervoll.

Die übrigen vier Welten lagen seitwärts von diesen in senkrechter Linie aufgethürmten fünf andern; nämlich zwei derselben rechts und links von Asgard, doch eine Strecke tiefer unter dem letztern, dem Himmelsreiche: im Norden Niflheim oder Nebelheim, ein eiskaltes und stürmisches Gebiet, oft verwechselt, wie es scheint, mit Helheim; im Osten dann Jotunheim, der Aufenthalt der Joten (Riesen). Die letzten zwei Reiche hatten ihren Platz zur rechten und linken Seite von Helheim, dem tiefsten Reiche, aber eine Strecke oberhalb desselben: im Westen Vanaheim (Wanaheim), das Land der ziemlich räthselhaften Vanen (Wanen), die in der Urzeit dem Asengeschlechte verfeindet waren, und im Süden Muspelheim, die Feuerwelt, bewohnt von den Muspelsöhnen mit ihrem Könige Surtur, welche oft hervorbrechen, um den Sitz der Äsen in Brand zu stecken. Wir wollen die Lage der vier Seitenwelten noch näher bezeichnen: Niflheim und Jotunheim erstreckten sich oben seitwärts zwischen Asgard und LichtAlfheim hin, dagegen Vanaheim und Muspelheim seitwärts in der Tiefe zwischen Helheim und SchwarzAlfheim, so dass zwischen den beiden oberen und den beiden unteren Reichen eine ziemliche Entfernung war, die jedoch zu der im Mittelpunkte gelegenen Erde sich gleich verhielt.

Das so getheilte Universum aber dachte man sich gehalten und getragen von einer ungeheueren Esche, welche mit ihrem Stamm und ihren Zweigen sich durch alle die genannten Welten hinzog und drei Hauptwurzeln hatte, die eine in Midgard, die zweite in Niflheim und die dritte in Jotunheim steckend, während ihr in die Lüfte strebender Wipfel, Namens Läradh, die Zinne von Asgard überragt und die Äsen täglich unter seinem Schatten versammelt. Dieser grösste und schönste Baum, der zugleich unvergänglich ist und selbst die einstige Verbrennung der Welt überdauert, führt die Benennung Yggdrasil (wörtlich die Schreckensträgerin). Den Ursprung dieser Vorstellung anlangend, haben wir in der riesigen Esche wohl, nach einer von dem Verfasser dieser Zeilen ausgesprochenen Vermuthung, die am Himmel glänzende Milchstrasse zu erkennen, welche in den wolkenlosen Nächten des kalten Nordens besonders hell schimmert, so dass ihre unübersehbare Gestalt auf die Phantasie den Eindruck eines die Welt umklammernden Riesenbaums hervorbringen mochte.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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