Einleitung I: Hinweis auf den bleibenden Werth der Mythologie und den Nutzen derselben

Einleitung

Einleitung I: Hinweis auf den bleibenden Werth der Mythologie und den Nutzen derselben

Einleitung

Aus den obigen Abschnitten leuchtet denn die allgemeine Wichtigkeit ein, welche die Mythologie hat, zumal wenn sie zur vergleichenden Wissenschaft wird. Der absolute Werth derselben für das Menschengeschlecht ist unbeschreiblich. Erstens bildet sie eine allbedeutsame Vorgeschichte, welche in die Geschichte selbst hineinragt. Zweitens ermöglicht uns ihre Kenntniss die gründliche Auffassung so vieler klassischer Schriftwerke, welche von den alten Nationen glücklich zur heutigen Welt gedrungen sind; ja, diese Kenntniss ist für das volle Verständniss nicht nur dieser Klassiker, sondern auch der modernen Schriftwerke geradezu unentbehrlich, da die letztern von jenen antiken Erinnerungen durch und durch erfüllt sind.

Drittens dehnt sich die Notwendigkeit, den Inhalt der Mythologie zu kennen, auf das Verständniss und die Schätzung der Werke aus, welche dem Reich anderer schöner Künste angehören, der Malerei, Bildhauerei und Architektur. Und zwar gilt der dritte Punkt ebenso von den zur Nachwelt überlieferten Besten als von den Leistungen der neueren Meister auf diesen drei Kunstgebieten.

Wir wollen hier nur auf das Verständniss der griechischen und römischen Klassiker einen Blick werfen. Wer könnte ohne Einblick in das hellenische Göttersystem einen Homer, Pindar und die dramatischen Dichter Athens begreifen? Wer könnte sich rühmen, dass er den lateinischen Text des Virgilius fasse, ohne mit dem mythologischen Hintergrunde des Ganzen und seiner tausendfältigen Einzelnheiten, kurz, mit der Anschauung der alten Welt möglichst bekannt zu sein? Lesen wir unter anderm den ersten Gesang der Aeneide, eines Gedichts, worin nicht blos von der trojanischen Epoche erzählt wird, sondern der ganze damalige Himmel Griechenlands und Roms ausgespannt ist: wie könnte ein Deutscher ohne Einsicht in die Götterlehre und das Sagenthum beider Völker folgende Stellen verstehen, die wir nach der vortrefflichen Uebersetzung des Virgilius von Wilhelm Binder mittheilen? Räthselhaft würden einem solchen Leser diese Darstellungen klingen, oder vielmehr, man würde sie ungelesen lassen. Juno tritt erzürnt auf, als sie den aus Troja entkommenen Aeneas mit seinen Genossen über das Mittelmeer nach Italien segeln sieht:

Auch nicht waren des Zorns Ursachen, die grausamen Schmerzen

Ihrem Gemüth entfallen: in innerster Seele bewahrt sie
Paris richtenden Spruch und die Schmach der verachteten Schönheit
Und das verhasste Geschlecht und das Amt GanymedB, des Entführten?

Was thut daher die Juno? Sie wendet sich an Äeolus, den Gott der Winde, damit er einen Sturm errege, der die Schiffe verschlinge:

......Dort zähmet in räumiger Bergkluft
Aeolus kämpfende Wind1 und die laut auftosenden Wetter
Durch obherrschende Macht und zwingt sie mit Band und Gefängniss.
Unmuthsvoll umtoben bei lautem Gemurmel des Berges u. s. w.

Aeolus gehorcht und entfesselt die Winde. Neptun hemerkt es und mischt sich zu Gunsten der Troer in die Sache; die Schiffe werden von der spitzigen Klippe weggedrängt.

......Neptun enthebet sie selbst mit dem Dreizack,
Oeffnet des Sands ungeheueren Wall und beruhigt die Wasser,
Gleitet dann über den Spiegel dahin auf geflügeltem Wagen.

Die mit Aeneas geretteten hungrigen Troer gewinnen das Ufer und zünden ein Feuer an, um die Mahlzeit zuzurüsten.

Ceres' Geschenk, von den Fluthen verletzt, und Geräthe der Ceres
Holen die völlig Erschöpften herbei, das gerettete Korn dann
Rösten sie flugs an der Flamm' und zermalmen es zwischen den Steinen.

Darauf werden Jupiter, Venus, Ceres, Amor und andere Götter sammt der Königin Dido vorgeführt. Wie soll ein Deutscher, der in dieses Gedicht blickt, eine Ahnung von dem Sinne haben, wenn ihm jene Gestalten fremd wären? Was soll er sich von Juno, Jupiter, Aeneas, Neptun, Ceres, Venus, Amor denken? Was von Aeolus, von Paris, Ganymedes, Bacchus und Triton? Wie soll ihm eine Darstellung klar werden, die ihm nicht gleichgültig sein kann, da ihr Stoff von welthistorischem Interesse ist und die Gründung Roms betrifft? Die antike Welt würde vor ihm wie mit Brettern verschlossen bleiben.

Nicht besser, eher noch schlimmer, müsste es uns mit den Werken der andern Künste ergehen. Betrachten wir ein Paar Gemälde eines grossen, neueren Meisters. Das eine bietet den Kampf der Trojer und Achäer um den Leichnam des Patroklos. Zur Rechten sehen wir den siegreichen Hektor mit seiner Schaar bis zur Umwallung der an den Strand geschobenen griechischen Schiffe vorgedrungen, während die von Ajax geführten Achäer zurückweichen. Auf der Zinne des Wallesaber steht Achilles, die Feinde bedrohend, die ihm den Freund getödtet haben: Pallas umloht den zürnenden Helden mit den Blitzen des Jupiter. Das zweite Gemälde schliesst die Unterwelt der Griechen vor unsern Blicken auf. In der Mittedes Reiches thronen der Gott des Hades Pluton und seine traurig finstre Gemahlin Persephone (Proserpina); zur Linken wachen die Todtenrichter, welche den durch Charon übergeschifften Seelen der Schatten ihr nunmehriges Loos bestimmen. Eben naht sich der Sänger Orpheus dem Throne; er ist in die Unterwelt gestiegen, um seine gestorbene Gemahlin Eurydice auf die Oberwelt zurückzuholen, wenn die Bitte erhört werden sollte. Er schlägt die Leier, in deren Saiten Eros (Amor) beseligend eingreift; die melodischen Klänge bezaubern das ganze Todtenreich, die furchtbaren Erinnyen (Furien) schlummern ein, die Danaiden rasten in ihrer vergeblichen Arbeit, der Kerberos selbst lässt stumm seine Köpfe hängen, und Eurydice lauscht auf ein. Zeichen des Pluton, das ihr gestatte, den geliebten Gatten an das Licht zurückzubegleiten.

Beide Darstellungen des Malers würden einem Jeden, der in die Götterlehreund Sagengesehichte der Griechen uneingeweiht ist, ein verworrenes Räthsel bleiben, ihrem gesammten Gegenstande nach, wie sehr der Beschauer auch die Kunst anstaunen möchte, die auf die Ausführung des Stoffes verwendet worden ist. Oder meint man, dass dergleichen Stoffe überhaupt von dem Pinsel der Neuzeit abzuweisen wären, weil sie uns fremd und gleichgültig erscheinen müssten?

Im Gegentheil; denn viertens müssen wir kurz, aber nachdrücklich, um den absoluten Werth der Mythologie zu kennzeichnen, auf die Vortheile aufmerksam machen, welche namentlich die Poesie und Kunst aus der Benützung der mythologischen Quellen nicht blos heute zieht, sondern immerdar ziehen wird. Der Inhalt derselben umfasst einen unerschöpflichen Schatz von Vorstellungen, Ideen, Bildern, Gleichnissen und Redewendungen, welche hie und da sich vortrefflich eignen, unseren Gedanken und Gefühlen schmuckreiche Züge zu verleihen, die, obgleich der fernliegenden Urzeit entnommen, eines bleibenden Reizes für das Heut sowohl als für die späteste Zukunft sicher sind. Die Dichter und Redner haben das unbeschränkteste Feld: sie dürfen aus allen Zonen und Zeiten Alles von unseren Urvorfahren Gedachte zusammentragen und auswählen, was sie für ihren momentanen Gebrauch nützlich und werthvoll erachten; die einzige Forderung, die dabei an sie gestellt werden muss, ist, dass sie dem Verständniss und dem Geschmack Rechnung tragen. Dem Maler dagegen und dem Bildhauer bieten vorzugsweise die Griechen ihre Ideale, ebenso dem Architekten, der aus den Trümmern ihrer Meisterhand sich unterrichtet. Bekannt ist, dass die mythologischen Quellen ebenso originell als interessant fliessen. Was nöthigt uns jemals, diese Bereicherung und Verschönerung menschlichen Gedankenflugs aus unsern Gärten abzuweisen? Es wäre nur die Beschränktheit, die ein solches Ansinnen aus dem Grunde stellte, das Alterthum nicht kennen lernen zu müssen, weil es eine lästige Zugabe sei! Unter anderm, warum sollten wir nicht einen fortdauernden Gebrauch machen von dem Charakter des Ormuzd und Ahriman, von der Erwähnung der persischen Lichtgeister und ihrer Kämpfe mit den Höllengeistern? Warum schweigen von dem Walten des Odin, des Thorr und Loki, von dem Einfluss der Nomen, von dem Amt der Walkyren, von dem Loose Siegfrieds und Chriemhilds? Warum nicht mehr reden von der Macht des Jupiter, von junonischer Schönheit, von dem Liebreiz der Aphrodite (Kypris, Venus), von den Pfeilen des Amor, von Musen, Grazien und Furien, von Parzen und Gorgonen, von Helden wie Herkules, Theseus und Achilleus, kurz, von Myriaden anderer grosser und erhabener Erscheinungen, welche die Mythologie berichtet? Könnte man nicht, mit gleichem Rechte, ein Aufgeben der Geschichte und ihrer Personen, Charakterzüge und Lehren fordern? Alle diese Fragen stellen wir den Gegnern der Mythologie, den Unkennern derselben, den einseitigen Verächtern alles dessen, worin sie eine fremde, der eigenen Nation nicht angehörige Vorstellung wittern. Als ob irgend eine Nation gut thun würde, sich loszusagen von der früheren Menschheit und von den mitlebenden Völkern! Aus den Banden der Gemeinsamkeit kann sich Niemand ohne Schaden zurückziehen. Ein Entsagen auf dem Gebiete der Mythologie wäre eine muthwillige Selbstberaubung; nach allen obigen Andeutungen liegt keine vernünftige oder beachtenswerthe Veranlassung vor, dass man sich aus Grundsatz und absichtlich zahlloser Geistesfunken und Lichtblüthen, welche aus der Vorzeit stammen, wie welker und todter Blätter entäussern und begeben müsse. Selbst die Volkspoesie, die manche Menschen für die höchste Stufe der Dichtung schätzen, würde ihre Zweige kahl machen, wenn sie innerhalb der Schranken ihrer vier heimischen Pfähle sich festbannen und auf die schmuckreichen Gaben alter und fremder Geschlechter, ebenso eigensinnig als kurzsichtig, verzichten wollte.

Fünftens möchte es uns vielleicht erlaubt sein, auch den Naturforschern einen Wink zu geben, dass die Mythologie eine Weltbedeutung habe. Vortrefflich sind Experimente, wodurch sie in die Natur eindringen; vieles Unverhoffte und Wundervolle erläutern sie zum Heile der Menschheit. Aber was sie durch Experimente erreichen, ist noch bei weitem nicht die volle Wahrheit selbst; denn die Wahrheit befindet sich auch in Regionen, die nicht handgreiflich sind. Möchten sie nebenher ihren Fleiss mit gleichem Ernste auf die Betrachtung und Erforschung des Geistes richten, nicht blos der organischen und unorganischen Materie. Wie wenig hat man den Menschen nach seinem geistigen Theile, der so uralt ist wie der Körper, geprüft, erforscht und begriffen! Will man seine Unsterblichkeit bezweifeln? Nun, er macht sich ja durch die gewonnene Fixirung seiner Gedanken, seiner Gefühle, seines innern Wesens schon auf dieser Erde gewissermassen unsterblich; die Existenz eines Geistes erhält sich, durch Worte gesichert, auf ferne Jahrtausende hinaus! Dem Materialisten werden wir dann glauben, dass es keinen Geist giebt, wenn er uns mit Beibringung überzeugender und vollgültiger Beweise sagen wird, was eigentlich die Sonne ist, oder was der Mond. Und der Geist, den sie verneinen, ist mehr als Sonne und Mond. Bis auf diesen Tag weiss weder ein Materialist noch sonst Jemand zu erklären, was ein blosses Baumblatt ist, geschweige denn, dass eine Menschenhand ein solches erzeugen, schaffen, machen könnte. Wo also will diese heutige menschliche Ueberhebung und Anmassung hinaus? Inzwischen sind wir so frei, zu behaupten, dass die meisten Naturforscher unseres Zeitalters, wie sehr sie sich brüsten mögen, nicht in Harmonie mit Natur und Geist sich befinden, sondern in Disharmonie. Man möchte sagen, sie haben die Fähigkeit für die Einsicht in die ewigen Gesetze der Dinge verloren. Die Vollkommenheit der Weltharmonie ahnt und begreift einzig und allein der wahre Dichter, in welchem Alles Harmonie ist; er vernimmt den göttlichen Klang, in welchem der menschliche Geist und das unsichtbare Leben der Seele sich ausdrückt und seine irdische Form gewinnt.


Aus Vollmer's Mythologie aller Völker, Stuttgart 1874

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